Dokumentationszentrum zum Vernichtungskrieg: An die deutsche Besatzungsherrschaft erinnern - mit europäischer Mission
Über die Denkmäler hinaus: Berlin braucht ein Dokumentationszentrum, das an die deutsche Besatzung und deren Folgen in ganz Europa erinnert. Ein Plädoyer
Ein Denkmal für die polnischen Opfer des deutschen Vernichtungsfeldzuges im Zweiten Weltkrieg, ein Gedenk- und Informationsort für alle Ermordeten, Verschleppten und Gefallenen im Osten - oder in ganz Europa? Seit Jahren wird in der Berliner Politik und unter Historikern und Historikerinnen über einen Weg gestritten, wie die offensichtlichen Lücken in der Erinnerungskultur geschlossen werden können.
Jetzt haben die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und das Deutsch-Polnische Institut einen gemeinsamen Kompromissvorschlag entwickelt. Der Historiker Wolfgang Benz stellt ihn hier vor.
Wolfgang Benz ist Beiratsvorsitzender der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und unterstützt gemeinsam mit Rita Süssmuth, der Beiratsvorsitzenden des Deutsch-polnischen Instituts, den Kompromissvorschlag für ein Dokumentationszentrum zur deutschen Besatzungsherrschaft. Benz’ Artikel ist ein gekürzter Vorabdruck aus einem Themenheft der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ zur deutschen Besatzungsherrschaft im Vernichtungskrieg 1939–1945, das Mitte September erscheint.
In seiner Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Januar 2020 fragte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach neuen Formen des Gedenkens für eine junge Generation. Diese wolle zu Recht wissen, was die Vergangenheit mit ihrem Leben zu tun hat. Dass es mit dem Errichten weiterer Denkmale kaum gelingen wird, Nachgeborene zu erreichen, ist allen bewusst, die neue Formen der Aneignung von Geschichte fordern.
Freilich ist es aller Ehren wert, Mahnzeichen beispielsweise für das, was in Polen oder Griechenland im Zweiten Weltkrieg geschah, in Berlin zu setzen. Es ist die Stadt, in der das Unheil geplant und befohlen wurde, das Deutschland über die Zivilbevölkerung fast aller europäischen Nationen gebracht hat. Was liegt daher näher als der Gedanke, in Berlin daran zu erinnern und über den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg unter deutscher Besatzung aufzuklären? Doch genügt ein abstraktes Zeichen, künstlerisch gestaltet, politisch gewollt, das aber seinen Zweck nicht selbst erklären kann?
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Wenn es um der Emotionalität willen monumentaler Zeichen bedarf, so müssen sie durch einen Ort des Lernens, der kognitiven Auseinandersetzung, an dem die Ziele und das ganze Ausmaß der Verbrechen deutscher Besatzungsherrschaft dokumentiert und erfahrbar sind, begleitet werden. Ein solches Zentrum der Aufklärung gibt es nirgendwo.
Bestehende Stätten sind bestimmten Opfergruppen gewidmet
Die zahlreichen NS-Dokumentationszentren, Gedenkstätten, Erinnerungsorte, die alle notwendig sind, die die deutsche Erinnerungskultur prägen, sind bestimmten Opfergruppen gewidmet – Juden, Sinti und Roma, Euthanasiegeschädigten, Homosexuellen und anderen – oder sie thematisieren nationalsozialistische Herrschaft im Blick auf die deutsche Gesellschaft, zeigen Wurzeln, Entwicklung, Wirkung der Ideologie für die eigene Nation bis zu deren Untergang.
Doch es fehlt ein Ort, an dem nationalsozialistische Herrschaft und deren Folgen in den okkupierten Territorien Europas dargestellt werden. Dabei geht es nicht um ein beliebig den bestehenden Einrichtungen historischer Information hinzuzufügendes Unternehmen, das allenfalls den Sinn vorhandener Einrichtungen variieren würde. Vielmehr wäre es über sein erinnerungskulturelles und didaktisches Ziel hinaus auch ein politisches Zeichen für ein geeintes Europa.
Die Idee eines Dokumentationszentrums, das sich dem Thema „Deutsche Besatzungsherrschaft im Vernichtungskrieg 1939–1945“ widmet, entstand in der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Die Initiative zur Errichtung eines Monuments für Polen als erster Opfernation deutscher Aggression weiterführend, unterbreitete der Beirat der Stiftung im November 2019 den Abgeordneten des Deutschen Bundestages den Vorschlag, in einem Dokumentationszentrum alle zivilen Opfer Europas zu würdigen.
Ein Ort der historischen Aufklärung und Bildung
Es hätte mehrere Aufgaben: Es wäre Ort der historischen Aufklärung und Bildung, der Begegnung von Menschen aller Generationen aus allen europäischen Staaten, Stätte der Toleranz und Friedensarbeit wie auch des Gedenkens an die zivilen Opfer aller Nationen Europas während des Zweiten Weltkrieges.
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Die vergleichende Perspektive führt die gemeinsamen Ziele deutscher Okkupation zwischen Pyrenäen und Ural vor Augen, würde vor allem aber auf die rassistisch motivierten Unterschiede der Behandlung der Zivilbevölkerung, der Kriegsgefangenen und der Zwangsarbeiter auf den Territorien unter deutscher Herrschaft aufmerksam machen. Während der Krieg im Osten und auch im Südosten auf Vernichtung zielte, galt die Strategie im Norden und Westen Europas der Unterwerfung unter deutsches Herrenmenschentum.
Viele Stätten des Völkermords sind bisher namenlos geblieben
Außer einigen wenigen allgemein bekannten Orten von Kriegsverbrechen in Frankreich, Italien und Griechenland sowie den Stätten des Völkermords in Polen, Weißrussland, der Ukraine, dem Baltikum sind viele Schauplätze deutscher Gewaltherrschaft in der deutschen Erinnerungskultur bisher namenlos geblieben. Nur in einer Zusammenschau, die nicht relativiert und hierarchisiert, sondern Bezüge setzt, kann sich dies ändern.
Im Rahmen von „Vergeltungsmaßnahmen“ wurde das französische Dorf Oradour-sur-Glane 1944 vernichtet, in Belarus löschten deutsche Einheiten 1943/44 über 600 Dörfer samt ihrer Bevölkerung aus. Für deutsche Barbarei in Italien steht das Dorf Marzabotto. Vernichtete Dörfer und die Ermordung ihrer Bewohner verweisen mit Lidice und Lezaky auf deutsche Verbrechen in der Tschechischen Republik und mit Kalavryta, Kommenno oder Distimo in Griechenland.
Mehr als 230.000 Kriegsgefangene aus den USA, Großbritannien und Kanada waren in deutschem Gewahrsam. Von ihnen überlebten knapp 8400 den Krieg nicht. Von insgesamt fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen wurden über drei Millionen gezielt ermordet oder durch Hunger und Krankheiten getötet. Der von der deutschen Besatzungsmacht herbeigeführte „Hongerwinter“ in Holland 1944/45 kostete etwa 22.000 Menschen das Leben, die fast 900 Tage währende Leningrader Hungerblockade von September 1941 bis Januar 1944 zwischen 800.000 und 1,2 Millionen Kinder, Frauen und Männer.
[Warum Entschädigungsklagen gegen Deutschland bislang immer scheiterten: "Im Konflikt mit den Menschenrechten"]
Das Dokumentationszentrum würde über die Vermittlung von Wissen hinaus die Idee „Europa“ stärken, die Verständigung über die anhaltenden Folgen des Zweiten Weltkriegs fördern und einer nationalstaatlichen Zersplitterung der Erinnerungskultur entgegenwirken. Es wäre ein gemeinsames europäisches Forum, das nicht nur der Würdigung aller Opfer, sondern auch dem Informationsbedürfnis künftiger Generationen dient.
Gefahr von Opferkonkurrenz
Wenn die Gefahr besteht, dass ein Denkmal zum martialischen Ort wird, an dem patriotische Auftritte Opferkonkurrenz entfachen, wo der von unerwünschter Seite niedergelegte Kranz Zorn erregt, muss man innehalten, um das Problem zu überdenken. Vielleicht sind Erinnerungsmonumente im öffentlichen Raum anachronistisch. Die Diskussion um das Einheitsdenkmal in Berlin könnte ein Indiz dafür sein, dass die Zeit der Denkmalstiftungen vorbei ist.
Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas ist – trotz der damit eingeleiteten Hierarchisierung der Opfergruppen, die jedoch wenigstens organisatorisch unter einem Dach vereint sind – deshalb so erfolgreich, weil es an seinem „Ort der Information“ den Holocaust dokumentiert und dadurch Wissen vermittelt, Aufklärung leistet, Schulklassen, Touristen, Bürgern aus aller Welt zur Erkenntnis und Einsicht in historische Zusammenhänge verhilft.
Ein Kompromissvorschlag, den Rita Süssmuth für das Deutsche Polen-Institut mitzeichnet, verbindet nun die Idee des Dokumentationszentrums zur deutschen Besatzungsherrschaft in Europa mit der Initiative Polendenkmal. Der gemeinsame Vorschlag der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und des Deutschen Polen-Instituts trägt sowohl dem Bedürfnis nach einem Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum (Denkmal) als auch der Notwendigkeit, Erkenntnis durch Information zu gewinnen (Lernort Dokumentationszentrum), an einem Platz des 1. September 1939 Rechnung.
Erforderlich ist deshalb ein Ort, an dem zu erfahren ist, welche Leiden dieser Krieg über Unbeteiligte, über die Zivilgesellschaft in den überfallenen Nationen gebracht hat, über Polen und Griechen, die russischen, ukrainischen, weißrussischen Bürger der Sowjetunion, über Litauen, Estland und Lettland, über Norweger, Dänen und Italiener, Franzosen, Belgier, Luxemburger, Niederländer. Die Liste ist mit den Völkern Jugoslawiens noch nicht abgeschlossen, und auch die Angehörigen der im Zweiten Weltkrieg getöteten Briten und Amerikaner, Kanadier oder Australier gehören dazu.
Ein Dokumentationszentrum, als Ort des Lernens und Gedenkens, der allen Opfern des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs ein Dach bietet, unter dem gemeinsam erinnert und getrauert wird, ist die zeitgemäße Herausforderung an das Bewusstsein aller Europäer.