Israels Präsident Rivlin im Bundestag: „Deutschland darf nicht versagen“
Historische Stunde im Bundestag: Bundespräsident Steinmeier und Israels Präsident Rivlin gedenken der Opfer des Nationalsozialismus – mit eindringlichen Worten.
Es sind nur einige wenige biografische Sätze, die Reuven Rivlin an den Anfang seiner Rede stellt. Und doch zeigen sie, was am Mittwoch im Bundestag ohnehin viele spüren: Wie außergewöhnlich es ist, dass der israelische Staatspräsident 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz im deutschen Parlament spricht.
„Ich wurde im September 1939 in Jerusalem geboren“, beginnt Rivlin. Er kam in die erste Klasse, als das Vernichtungslager Auschwitz befreit wurde. Er traf Überlebende, hörte ihre Geschichten, sah die Nummern auf ihren Unterarmen. Später demonstrierte er gegen die Wiedergutmachungszahlungen Deutschlands an Israel, weil er das Gefühl hatte, dass damit die Schrecken vertuscht werden sollen. 1995 ging er gegen den ersten deutschen Botschafter in Israel auf die Straße. „Und heute stehe ich vor Ihnen und zusammen mit Ihnen“, sagt der 80-Jährige – gerichtet an das Plenum des Bundestages.
Die Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag ist in diesem Jahr eine historische Stunde. Neben Rivlin hält Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine Rede. Dass die Staatsoberhäupter Deutschlands und Israels gemeinsam an dieser Gedenkstunde teilnehmen, hat es noch nicht gegeben.
Anspannung mit Blick auf die AfD
Es ist eine Woche des Erinnerns, die die beiden hinter sich haben. Sie begann vergangenen Donnerstag in Jerusalem, wo Steinmeier in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem an die deutsche Verantwortung des Erinnerns appellierte. „Es darf keinen Schlussstrich geben“, sagte er dort. Am Montag besuchte Steinmeier zum ersten Mal die Gedenkstätte Auschwitz. Von dort aus reiste er gemeinsam mit Rivlin in einem Flugzeug der deutschen Luftwaffe nach Berlin. Und am gestrigen Mittwoch begingen die beiden Staatsoberhäupter schließlich die Gedenkstunde im Bundestag.
Mit Anspannung erwartet wurde diese Stunde auch, weil mit der AfD eine Partei im Plenum sitzt, in der Funktionäre mit Blick auf die deutsche Erinnerungskultur von „Schuldkult“ sprechen, von „dämlicher Bewältigungspolitik“. Eine Partei, deren ehemaliger Parteichef findet, man solle das Recht haben, stolz zu sein auf die „Leistung“ deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen. Im vergangenen Jahr hatten zudem AfD-Abgeordnete bei der Gedenkstunde stellenweise den Applaus verweigert. Würde es diesmal einen Eklat geben?
Um Punkt 11 Uhr betreten Steinmeier und Rivlin den voll besetzten Plenarsaal. Die Abgeordneten empfangen sie stehend und schweigend. Der erste Beifall brandet auf, als Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in seiner Rede den israelischen Präsidenten begrüßt. „Wir müssen über Auschwitz sprechen“, sagt Schäuble. „Über das, wofür es eigentlich keine Worte gibt.“
In der Rede, die Steinmeier dann hält, wird deutlich, wie tief ihn die vergangenen Tage geprägt haben. Er berichtet dem Bundestag von der Holocaust-Überlebenden Giselle Cycowicz, die er in Jerusalem traf. „Kein Jubel! Keine Freude! Als die ersten Soldaten der Roten Armee die Lagertore öffneten, hatten wir selbst dafür nicht mehr die Kraft“ – so habe sich Cycowicz erinnert.
„Es ist ein Geschenk“
Steinmeier spricht auch davon, wie er zwei Tage zuvor mit Staatspräsident Rivlin durch das Lagertor von Auschwitz ging. „Nie war mir ein Gang so schwer. Nie war ich so dankbar für den Freund an meiner Seite“, sagt Steinmeier. Dass ein israelischer Präsident die „schmerzhaften Schritte der Erinnerung“ gemeinsam mit einem Deutschen gehe, das erfülle ihn mit tiefer Demut. Steinmeier sagt: „Lieber Reuven Rivlin, es ist ein Geschenk.“ Wie tief die beiden sich einander verbunden fühlen, ist für jedermann zu spüren.
Und Steinmeier wiederholt die Botschaft, die er bereits in Yad Vashem gesendet hat. Dass sich die bösen Geister der Vergangenheit heute in neuem Gewand zeigten. Ihr völkisches, autoritäres Denken als Vision präsentierten. „Ich fürchte, darauf waren wir nicht vorbereitet“, sagt Steinmeier. „Diese Prüfung müssen wir bestehen. Das sind wir der Verantwortung vor der Geschichte, den Opfern und auch den Überlebenden schuldig!“ Es sind Sätze wie dieser, bei denen der gesamte Bundestag klatscht, viele aus der AfD aber nur widerwillig – oder gar nicht, wie der sächsische Abgeordnete Jens Meier.
Reuven Rivlin wendet sich auf Hebräisch an den Bundestag. Trotz der auf Kopfhörer übertragenen Übersetzung büßen seine Worte nichts von ihrer Dringlichkeit ein. Rivlin skizziert, wie groß die Verantwortung ist, die auf Deutschland lastet. Derselbe Staat, „der der Schrecken der freien Welt gewesen ist“, sei nun ein Leuchtturm geworden für Demokratie. Doch mittlerweile schwebe wieder Rassismus, Nationalismus, Fremdenhass und Antisemitismus über ganz Europa. „Wir sind nicht in den 30er Jahren, wir stehen nicht an der Schwelle zu einer neuen Shoa. Dennoch müssen wir den Anfängen wehren.“
Rivlin warnt vor Versagen Deutschlands
Rivlin bezieht sich auch auf den Anschlag im vergangenen Jahr in Halle, wo der Täter zunächst versuchte, in eine Synagoge einzudringen und dann ein muslimisches geführtes Bistro angriff. „Es beginnt mit Judenhass und weitet sich dann aus auf Hass gegen Muslime.“
Die Botschaft des Staatspräsidenten ist deutlich: Deutschland darf nicht versagen. „Deutschland – das Land, in dem die Endlösung erdacht wurde – hat die Verantwortung übernommen für den Schutz internationaler, liberaler Werte, die vom Populismus beeinträchtigt werden.“ Wenn Deutschland dabei scheitere, dann werde der Versuch überall scheitern.
Die AfD kritisiert Rivlin in seiner Rede nicht direkt – anders als nach der Bundestagswahl 2017. Doch es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich seine Mahnungen auch an die AfD-Abgeordneten richten.
Rivlin blickt zudem auf den Nahostkonflikt. Er kommt auf die unterschiedlichen Positionen Deutschlands und Israels zum Iran zu sprechen. Dessen Bedrohung sei für Israel nicht theoretisch. „Für uns ist das eine existenzielle Frage.“ Auch auf den Nahost-Plan von US-Präsident Donald Trump geht Rivlin ein, spricht davon, dass er „hoffnungsvoll gestimmt“ sei. Für die Umsetzung komme es darauf an, Vertrauen zwischen Israelis und Palästinensern aufzubauen. „Da können Sie uns sehr helfen“, sagt er – gerichtet an Bundestag und Bundesregierung.