Ethnologen erforschen Flüchtlingsströme: An den Grenzen des Zufluchtsorts Europa
Unterwegs auf Lesbos oder im Berliner Flüchtlingsheim: Wie Ethnologen die neuen Migrationsbewegungen erforschen. Ein Bericht von der Jahrestagung der Völkerkundler.
Wenn sich Ethnologen mit politisch brisanten Themen wie der sogenannten Flüchtlingskrise beschäftigen, geraten sie nicht selten in ein Dilemma. Einerseits ist ihre wissenschaftliche Disziplin von hohen moralischen Werten geprägt. Für viele gehört es zum guten Ton, gesellschaftliche Missstände zu beschreiben. Andererseits dürfen sie ihre Ansprüche auf Allgemeingültigkeit, Nachweisbarkeit und Unabhängigkeit nicht politisch-moralisch verengen. Dass sich aus diesem Dilemma auch Chancen entwickeln, die neuen Migrationsbewegungen zu verstehen, zeigte sich am Mittwoch zur Eröffnung der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) im Audimax der Freien Universität.
Rund 550 Wissenschaftler aus aller Welt diskutieren bis Sonntag an der FU die Folgen der Fluchtbewegungen nach Europa. „Stößt der Zufluchtsort Europa an seine Grenzen?“ lautete die Leitfrage der Podiumsdiskussion zum Auftakt. Der Ethnologe Alessandro Monsutti vom Institut für Internationale Studien und Entwicklung in Genf steht mit seiner Forschung dafür, das Thema zuallererst aus der Sicht der Flüchtenden zu sehen. Monsutti hat im Sommer 2015 afghanische Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos, in der Stadt Friaul in Norditalien sowie in dem wilden Zeltlager von Calais in Nordfrankreich begleitet. Europa werde von den Flüchtlingen grundsätzlich als der Ort der Menschenrechte wahrgenommen, als der Ort, an dem Menschen respektiert werden, sagt Monsutti. Einmal in Europa angekommen, seien sie aber ernüchtert, weil sie die erhoffte Gastfreundschaft in Europa nicht finden.
Ausgegrenzt auch an den Zufluchtsorten
Ausgerechnet an ihren Zufluchtsorten würden sie ausgegrenzt. Daraufhin organisierten sie sich in ihren eigenen ethnischen Gruppen. „Das sagt uns etwas über Europa“, befand Monsutti. Dabei müsste anerkannt werden, dass die Mobilität der Menschen – egal ob sie freiwillig geschieht oder durch Krisen und Kriege hervorgerufen wird – ein „moralischer Protest und ein politischer Akt“ sei. „Die Weltordnung wird als unmoralisch begriffen.“ Es sei zutiefst desillusionierend für die Geflüchteten, festzustellen, dass dies auch für die Aufnahmeländer gilt.
Doch wie viele Rechte hat ein Flüchtling? Gibt es das Recht auf Widerstand, um den harten Umständen in einer zur Massenunterkunft in einer Sporthalle zu entgehen? Žiga Podgornik-Jakil, Promotionsstudent an der FU Berlin, stellte sich diese Fragen bei seinen Forschungen zu Geflüchteten in Berlin, die in Notunterkünften leben. Auch Podgornik-Jakil beobachtete, dass sich Flüchtlinge zusammenschließen, um auf Missstände aufmerksam zu machen und Forderungen zu stellen. „Das Essen ist schlecht, hier können wir nicht schlafen, es gibt keine Privatsphäre“, zitierte er seine Interviewpartner.
Sie erwarten Standards bei der Unterbringung - und werden enttäuscht
Als „Grenzen“, an die Europa stößt, erweisen sich hier Erwartungen an Standards der Unterbringung und an die Versorgung, die der Zufluchtsort aus finanziellen und organisatorischen Gründen oder aus politischen Erwägungen nicht erfüllen kann oder will. Auf die besonders brisante Situation in Griechenland wies die Ethnologin Heath Cabot von der Universität in Pittsburgh, USA, hin. Im Zuge der Euro-Krise mittellos gewordene Griechen fänden sich dort gemeinsam mit Geflüchteten an denselben „Orten der Armut“ wieder – bei der Ausgabe von Hilfsgütern oder in Notunterkünften.
Die Tagung in Dahlem trägt die ambitionierte Überschrift „Zugehörigkeiten. Affektive, moralische und politische Praxen in einer vernetzten Welt“. Für Ethnologen sind das exakte Begriffe, mit der sie etwa eine „affektive“ Situation beschreiben, in der ein Flüchtling Angehörige einer ihm bis dahin fremden Gemeinschaft erlebt. Die Perspektive lässt sich genauso auf die Angehörigen der aufnehmenden Gesellschaft drehen.
Was passiert beim Zusammentreffen mit Neuankömmlingen aus uns bislang eher fremden Weltgegenden? Wie weit sind die Beteiligten moralisch und politisch darauf vorbereitet beziehungsweise beeinflusst? Wo sehen sie ihre Identität infrage gestellt oder gar gespiegelt? Welche der ihnen zu Gebote stehenden Möglichkeiten des Umgangs miteinander – welche Praxen – nutzen sie?
Von der Perspektive der Geflüchteten lernen
Aus ethnologischer Sicht sind die neuen Migrationsströme, die Europa erreichen, ein großes neues Forschungsfeld. Feldforscher – sei es auf Lesbos oder in Berliner Flüchtlingsheimen – sammeln Situationen, die Menschen erleben. Je mehr Perspektiven es auf solche Situationen gibt, desto besser kann man sie einordnen. Bei der Dahlemer Tagung zeigt sich jedenfalls, dass Europa von der Perspektive der Geflüchteten noch viel lernen kann.