Kolumne "Was Wissen schafft": Als die Götter gütig wurden
Vor 2500 Jahren machte die Menschheit einen großen Schritt nach vorn. Bis heute gültige ethische Normen nahmen Gestalt an, meint unser Kolumnist.
Für viele Menschen dürfte es selbstverständlich sein, dass Religion und Moral irgendwie zusammenhängen. Gott macht uns gut, so die Annahme. Gott zähmt die wilde Bestie Mensch. Und das, je nach Glaubensrichtung und Religion, mal auf die sanfte Art, wie ein Dorfpolizist, der dem Eierdieb freundlich auf die Finger klopft; und mal auf die harte Tour, als allwissender Big Brother, der unversöhnlich jede Missetat und jeden unreinen Gedanken abstraft.
Aber die Götter waren nicht immer auf moralisches Verhalten aus. Gottheiten der alten Ägypter, Sumerer, Griechen und Römer, der Azteken, Mayas und Inkas hatten mit dem Guten wenig am Hut. Sie verlangten Rituale, Opfer und das Bewahren von Tabus. Beachtete man das, wurde Unglück abgewendet und Wohlstand gesichert. Das änderte sich etwa in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends vor Christus. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers hat jene Ära als „Achsenzeit“ bezeichnet. Diese „Achse der Weltgeschichte“ habe, meinte Jaspers in seiner Schrift „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“, zum Werden der Weltreligionen und letztlich zum Entstehen des modernen Menschen geführt. In dieser Zeit sei der Mensch sich seiner selbst und seiner Grenzen bewusst geworden.
Selbstdisziplin, Askese und Mitgefühl stehen im Zentrum
Vor allem in drei Regionen Eurasiens entstanden in dieser Zeit moralisch inspirierte Lehren und Religionen: in China am Gelben Fluss und am Jangtsekiang, in Indien im Ganges-Delta und im östlichen Teil der Mittelmeerregion. Darunter Buddhismus und Hinduismus, Taoismus und Konfuzianismus, die griechische Philosophie und eine neue Epoche des Judentums, die in gewisser Weise das Fundament für Christentum und Islam legte. Die neuen Lehren betonten Selbstdisziplin, Askese und Mitgefühl. Das Leben bekam jenseits der materiellen Existenz einen höheren, übersinnlichen Zweck, und wer Gutes tat, erreichte ihn. Die brutale Welt der alten Götter mit ihren Menschenopfern wich einer neuen, in der Spiritualität und Mitleid das materielle Sein überwanden.
An die Stelle des blanken Überlebens traten die Entwicklung der Persönlichkeit und Selbstverwirklichung, das Anstreben höherer Lebensziele. Das aggressive „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ wich der Goldenen Regel: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“. Dieses ethische Grundgesetz ist tief in uns verwurzelt und vermutlich ein Erbe der Evolution. Schon Kleinkinder im Alter von 15 Monaten haben ein Gespür dafür, ob jemand gerecht behandelt wird, wie Nicolas Baumard von der Universität Pennsylvania in Philadelphia berichtet.
Wer Gutes tut, den belohnen die Götter
Auch in den neuen Religionen der Achsenzeit zeigt sich ein Sinn für Proportion und Fairness. Gute Taten werden mit übernatürlichen Gaben belohnt, den Sünder erwarten entsprechende Strafen. Die Weltordnung ist gerecht.
Endgültig wird sich nicht aufklären lassen, was zu dieser Wende in den Weltanschauungen geführt hat. Möglicherweise gab es dafür handfeste Ursachen, meint Baumard. Gemeinsam mit drei Kollegen hat Baumard ein statistisches Modell entwickelt, mit dem er den Aufstieg moralisierender Heilslehren in der Achsenzeit erklären kann. Im Fachblatt „Current Biology“ berichtet er, dass ein höherer Lebensstandard, indirekt gemessen als höherer Energieverbrauch, den Wandel bewirkte. Also zum Beispiel besseres Essen und Schutz vor Naturgewalten.
Erst kommt das Fressen, dann die Moral? Der tägliche Kampf ums Dasein, das Leben von der Hand in den Mund muss vor 2500 Jahren tatsächlich – zumindest bei einigen Begüterten – einer weniger sorgenvollen und stärker reflektierten Existenz gewichen sein. Der Horizont weitete sich. Plötzlich wurden ethische Fragen wichtig. Karl Jaspers sah darin eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der neuen „Achsenreligionen“. Nun gab es Gelehrte und Priester, die Zeit und Muße hatten, um über das richtige Leben nachzudenken und die neuen Lehren auszuarbeiten.
Baumard und seine Kollegen vertreten noch eine weitere Annahme: Der Wohlstand könnte einen neuen Lebensstil gefördert haben, der von kosmopolitischen und offenen Gesellschaften geprägt war – zumindest in den großen Städten jener Zeit. Großzügigkeit, Weltoffenheit und Selbstkontrolle waren das Kennzeichen dieser neuen Zentren. Zivilisation zivilisiert.
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