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© Laif / Montage: TSP

Moral: Die Natur des Guten

Wissenschaftler ergründen, welche Wurzeln die Moral hat – und stoßen auf das Erbe der Evolution.

Stellen Sie sich vor, man würde Ihnen folgende Geschichte erzählen und Sie um Ihre Einschätzung bitten: „Julie und Mark waren Bruder und Schwester. Eines Abends überlegten sie, dass es vielleicht schön wäre, einmal miteinander zu schlafen. Julie nahm bereits die Pille, aber um ganz sicher zu gehen, benutzte Mark noch ein Kondom. Beide empfanden es als ein bereicherndes Erlebnis. Sie hielten es geheim und fühlten sich einander dadurch noch näher.“

Was würden Sie sagen: War es in Ordnung, dass die beiden Geschwister miteinander schliefen? Die meisten Menschen rufen an dieser Stelle spontan „Nein!“. Sie müssen darüber gar nicht groß nachdenken.

Aber warum eigentlich? Warum reagieren wir so und nicht anders? Wieso sollte es falsch sein, was die beiden Geschwister tun? Genau das wollte der US-Psychologe Jonathan Haidt von der Universität Virginia wissen, als er einer Gruppe von Testpersonen die Geschichte von Julie und Mark zu lesen gab; fast alle hielten das Verhalten der beiden für verkehrt.

Als der Forscher seine Versuchskaninchen dann nach den Gründen ihrer Ablehnung fragte, offenbarte sich etwas Aufschlussreiches. Einige meinten, die Geschwister würden eines Tages womöglich unter ihrer Tat leiden. Woraufhin der Psychologe entgegnete: Nein, nein, das sei nicht der Fall, im Gegenteil, die beiden fühlten sich gut dabei. Wie Haidt berichtet, hörten die meisten Leute irgendwann auf zu diskutieren und meinten schlicht: „Ich weiß es nicht, ich kann es nicht erklären, ich weiß einfach, dass es falsch ist.“

Ich weiß einfach, dass es falsch ist: Was sich nach einer banal-unbefriedigenden Antwort anhört, klang für den Forscher Haidt wie Musik in seinen Ohren – ihm wurde schnell klar, dass gerade diese „Nicht-Antwort“ etwas Entscheidendes über den menschlichen Geist verrät. Die Reaktion der Testpersonen führt sogar zu einer Erkenntnis, die ein neues Licht auf den Menschen wirft, auf einen Kern dessen, was ihn ausmacht – seine Moral.

Der Mensch ist das einzige Tier mit einem ausgeprägten Gespür für Moral. Wir sind nicht nur ein animal rationale, sondern auch ein animal morale. Damit sind wir eine krasse Ausnahme. Alles in der Natur geschieht jenseits von Gut und Böse. Tiere tun einfach, was sie tun müssen. Es gibt kein Gut und kein Böse, schon gar keine Achse des Bösen. Es gibt einfach nur Taten.

Wieso ist das bei uns anders? Warum beurteilen wir manche Taten nicht einfach nur als ungewöhnlich oder unangenehm, sondern als falsch?

Philosophen hat diese Frage seit jeher fasziniert. „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt“, sinnierte zum Beispiel schon Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Genau genommen haben wir es zwar nicht nur mit einem, sondern mit zahlreichen moralischen Gesetzen in uns zu tun, das Wort „Gesetz“ aber trifft es. Tatsächlich ist es ein Kardinalkennzeichen unserer moralischen Empfindungen, dass sie diesen seltsamen „Gesetzescharakter“ besitzen.

So sind Moralurteile nicht einfach bloß Geschmackssache. Man kann sagen: „Ich mag keinen Spinat, aber iss du ruhig welchen.“ Dagegen wäre jemand reif für die Klapsmühle, der sagen würde: „Mord ist nicht meine Sache, aber wenn du jemanden umbringen willst, mach das ruhig.“ Wir wissen zwar nicht, woher die moralischen Gesetze in uns („Du sollst nicht morden“) stammen, sind uns aber zugleich sicher, dass sie für alle gelten sollen. Dass sie nicht einfach etwas Beliebiges, Subjektives sind.

Moralische Gesetze sind auch universeller als juristische Gesetze. Sie gelten nicht nur innerhalb gewisser Grenzen und weil sie irgendwann von irgendwem festgelegt wurden, wie 1990 das Embryonenschutzgesetz vom Deutschen Bundestag. Nein, moralische Gesetze gelten immer und überall, als kämen sie von Gott höchstpersönlich. Ein brutaler, sinnloser Mord an einem unschuldigen Menschen ist immer und überall böse. Wenn es auf dem Mars intelligente grüne Männchen und grüne Weibchen gäbe, dann wäre Mord auch auf dem Mars verkehrt.

Unser Leben ist von Moral durchtränkt. Der Kampf gegen das Böse, für das Gute bestimmt das Schicksal der Welt – und doch bleibt uns der Ursprung von Gut und Böse selbst rätselhaft.

Um daran etwas zu ändern, um dem Mysterium der Moral auf die Schliche zu kommen, sind einige Philosophen in den letzten Jahren eine ungewöhnliche Liaison eingegangen: Sie haben sich mit Psychologen und Hirnforschern verbündet, um die uralte Frage nach Gut und Böse einmal aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Das exotische Bündnis hat sich als fruchtbar erwiesen: Allmählich kristallisieren sich aus den Arbeiten Erkenntnisse heraus, die unsere Vorstellung dessen, was es heißt, ein guter Mensch zu sein, auf verstörende Weise in Frage stellen.

Die zentrale Einsicht hört sich zunächst harmlos an: Unsere moralischen Urteile, so die grundlegende Vermutung, entspringen nicht der Vernunft, sondern der Biologie, dem Gefühl. Schon der einfache Befund, auf den der Psychologe Haidt stieß, deutet in diese Richtung: Wären unsere Moralurteile reine Vernunftsache, müssten wir sie auch mit der Vernunft erklären können. Haben sie eher intuitiv-emotionalen Ursprung, ist es sinnvoll, wenn man zwar spürt, dass bestimmte Verhaltensweisen wie Inzest „falsch“ sind, man dies aber nicht restlos begründen kann.

Im Falle von Inzest liegt der biologische Ursprung unserer Abneigung ziemlich nahe: Bei Nachkommen von Geschwistern kommt es häufiger zu genetisch verursachten Fehlbildungen. Wie es scheint, hat uns die Natur zu Urzeiten, lange vor der Erfindung des Kondoms und der Antibabypille, eine Art Notbremse mit auf den Weg gegeben, einen Instinkt gegen Inzest, der spontanen Widerwillen erzeugt. Verlangt man von uns, unsere Abneigung zu begründen, fängt die Vernunft an, nach möglichen Argumenten zu fahnden. Wer nicht zufällig Bio als Leistungskurs gewählt hat, tappt dabei weitgehend im Dunkeln, bis man irgendwann kapituliert und sagt: „Ich weiß es nicht, es ist einfach falsch.“

Haidts kleiner Versuch ist nur ein Mosaiksteinchen von vielen: Etliche Forscher rund um die Welt haben Testpersonen inzwischen die unterschiedlichsten moralischen Geschichten und Szenarien vorgelegt. Ein Großteil dieser Befunde weist in eine ähnliche Richtung, auf eine ähnliche Erkenntnis, die da lautet: Zuerst kommt das Gefühl, dann die Moral.

Das führt auch folgendes Beispiel vor Augen. Nehmen wir an, Sie fahren im Auto und sehen einen blutenden Mann am Straßenrand liegen. Dummerweise haben Sie gerade Ihre Ledersitze reinigen lassen, Kostenpunkt: 200 Euro. Was tun? Ist doch klar: Sie retten den armen Kerl, bringen ihn ins Krankenhaus. Wie Tests zeigen, halten es die meisten Leute für zutiefst verwerflich, einen Menschen in dieser Situation seinem Schicksal zu überlassen, Ledersitze hin oder her.

Ganz anders fällt das Urteil in einem zweiten, vergleichbaren Szenario aus. Stellen Sie sich vor, Sie finden in Ihrem Briefkasten das Schreiben einer medizinischen Wohlfahrtsorganisation, die Sie um 200 Euro für Menschen in Not in einem fernen afrikanischen Dorf bittet. Spenden Sie, retten Sie Leben. Was sollen Sie tun? Jetzt findet die Mehrheit der Testpersonen, man sei kein schlechter Mensch, wenn man in diesem Fall nicht spendet.

Wieso machen wir diesen Unterschied? „In beiden Fällen hat man die Möglichkeit, jemanden, der medizinische Hilfe braucht, zu unterstützen“, stellt der Harvard-Philosoph Joshua Greene fest. Dennoch bewerten wir die Situationen völlig anders. Rein rational, meint Greene, lasse sich das kaum begründen. Vielmehr kämen auch hier wieder unsere Entwicklungsgeschichte und unsere Gefühle ins Spiel: Unser Urteil hänge damit zusammen, wie unser Hirn von der Evolution verdrahtet wurde.

Ein blutender Mensch am Straßenrand – das ist eine persönliche Sache, sie betrifft das eigene Umfeld, die eigene Gruppe. Die Spende für Hilfsbedürftige in fernen Ländern dagegen ist unpersönlich. Unsere Vorfahren in der Savanne hatten in ihren kleinen, überschaubaren Jäger-Sammler-Gruppen einen klaren Überlebensvorteil, wenn sie sich im Notfall gegenseitig halfen. So hat uns die Evolution ein moralisches Empfinden mit auf den Weg gegeben, das auf persönlichen Kontakt geeicht ist. Anonyme One-Way-Spenden für Menschen am Ende der Welt? Sorry, nicht meine Baustelle, sagt unser Moralinstinkt. Wir müssen uns erst mit der Vernunft davon überzeugen, dass auch diese ferne Hilfe etwas Gutes ist.

Um zu prüfen, ob in diesem Erklärungsmuster ein Kern von Wahrheit steckt, legte der Philosoph Greene Testpersonen in einen Kernspintomographen, während diese über die beiden Szenarien grübelten. Es zeigte sich: In der ersten, persönlichen Situation (Mann am Straßenrand) wurden tatsächlich eher Gefühlszentren des Gehirns aktiviert sowie Areale, die wir üblicherweise in sozialen Situationen benötigen. Beim Spendenbeispiel dagegen leuchteten vor allem Hirnfelder auf, die man mit dem kühlen Verstand in Verbindung bringt.

Das Ergebnis ist ernüchternd. Und wirft einige irritierende Fragen auf: Wenn es wirklich an unserem primitiven Instinkt liegen sollte, dass uns ferne Probleme wenig kümmern (es sei denn, das Fernsehen bringt sie uns „künstlich“ nah oder man macht sie persönlicher durch so etwas wie Patenschaften), sollten wir diesen Instinkt dann nicht mit der Vernunft überstimmen?

Ein vernunftgesteuerter Kritiker oder moralischer Roboter etwa könnte wie folgt argumentieren: „Liebe Menschen, ihr seid solche Gefühlstiere! Ihr seid nicht vernünftig. Der blutende Mann am Straßenrand braucht eure Hilfe, sicher, aber nicht anders geht es den Menschen in Afrika. Sie benötigen eure Hilfe sogar noch dringender. Mit den 200 Euro für die ruinierten Ledersitze könntet ihr zehn verhungernde oder kranke Kinder in Afrika retten statt lediglich einen erwachsenen Mann. Der einzige Grund, weshalb ihr nicht so denkt und handelt, liegt an eurem primitiven Gehirn, das von der Evolution auf persönlich-nahe Probleme geeicht wurde. Biologie aber ist kein vernünftiges moralisches Kriterium. Nicht eure beschränkte Natur sollte über Gut und Böse entscheiden, sondern die Vernunft.“

Es gibt Philosophen, die genau so argumentieren. Beispielsweise empfindet es der australische Ethik-Experte Peter Singer, Professor an der Princeton-Universität in den USA, als unethisch, dass wir Situationen anders bewerten je nachdem wie „persönlich“ sie für uns sind. Räumliche Distanz, sagt Singer, ist kein moralisches, sondern ein Instinkt-Kriterium. Es lasse sich auch nicht vernünftig rechtfertigen, dass wir unser Geld für luxuriöse Ledersitze ausgeben, während in Afrika Menschen zu Tode hungern. Konsequenterweise spendet Singer etwa 25 Prozent seines Einkommens an Wohlfahrtsorganisationen wie Oxfam.

Singers Position klingt vernünftig, ja sogar sehr human. Zugleich führt sie zu einem gravierenden Problem: Wo ziehen wir die Grenze zwischen dem, was unsere von der Evolution geprägten Gefühle uns zuflüstern und dem, was die Vernunft sagt? Gesetzt den Fall, rein hypothetisch, Männer hätten wirklich eine genetische Veranlagung zum Fremdgehen. Sollten wir das Fremdgehen dann gutheißen? Natürlich nicht. Die meisten würden sagen: Lasst uns die Natur bloß ignorieren und mit der Moral gegensteuern! Natur ist jenseits von Gut und Böse. Fremdgehen ist falsch. Basta.

Gut, aber wo wir schon dabei sind, die Biologie über Bord zu werfen: Wie ist es mit Inzest? Soll das gestattet oder, wie in Deutschland und anderswo, verboten sein? Viele Menschen würden nun plötzlich anders reagieren und sagen: In diesem Fall sollten wir vielleicht doch lieber auf die Natur hören. Ist die Natur also doch nicht jenseits von Gut und Böse?

Im Falle von Inzest gibt es selbstverständlich auch Menschen, die meinen, die Natur sollte hier – wie beim Fremdgehen – keine Rolle spielen: Wenn zwei Geschwister einander und anderen keinen Schaden zufügen, dann, so die Argumentation, sollen sie ruhig miteinander schlafen dürfen.

Allerdings gibt es auch Lebensbereiche, wo praktisch jeder von uns davon überzeugt ist, dass wir der Natur folgen sollten, und zwar mehr oder weniger hemmungslos, etwa wenn es um unsere eigenen Kinder geht. Käme ein Biologe auf uns zu, der sagen würde: „Pass auf, der Grund, weshalb du dich fast ausschließlich um deine eigenen Kinder kümmerst und ihnen alle Mittel zukommen lässt, ist, weil sie deine Gene teilen. Deine Fürsorge ist letztlich eine Sache der Biologie. Du bist ein Opfer der Evolution, mein Lieber. Sie hat dich ausgetrickst. Sie ist der Grund dafür, weshalb du deinen Kindern ein Auto oder ein Erbe von 200 000 Euro schenkst, während es anderswo auf der Welt Kinder gibt, die gar nichts haben. Denen hilfst du nur deshalb nicht, weil du biologisch so gestrickt bist, dass dich dein Kind über alle Maße interessiert, während dein Gehirn ferne Probleme nicht als deine Probleme wahrnimmt.“

Die Welt ist ungerecht, könnte man sagen, das ist bitter, aber wussten wir das nicht auch ohne Moralforschung? Doch, klar. Nur, sollte die Wissenschaft unsere innersten moralischen Gefühle mehr und mehr als bloßes Erbe der Evolution entlarven, würde das nicht auf noch beklemmendere Art und Weise als bisher unser übliches Handeln und Urteilen in Frage stellen? Was, wenn sich unsere gesamte Moral als irrational erweisen würde, als eine Strategie egoistischer Gene, die uns suggerieren, das, was wir als Gut und Böse empfinden, sei etwas „Universelles“?

Je weiter das Projekt der moralischen Selbstentzifferung voranschreitet, desto unausweichlicher könnten wir mit der Erkenntnis konfrontiert werden, dass wir sogar mit unseren scheinbar guten Taten nur gut in einem extrem subjektiven Sinne handeln. Das eigene Kind zu verwöhnen fühlt sich gewiss gut an, aber tut es das bloß, weil die Evolution es so für uns eingerichtet hat? Ist es wirklich gut, was wir zu tun geneigt sind, gemessen daran, was wir mit unserem Geld noch tun könnten?

Wie werden wir mit diesen Einsichten umgehen? Werden wir überhaupt einsehen wollen, was uns die Wissenschaft über uns selbst verkündet? Wann sollen wir unsere Intuitionen verwerfen und unserer Vernunft folgen – und wann nicht?

Am Ende, das zeichnet sich jetzt schon ab, wird sich wohl nie ein befriedigender Ausweg aus dem Dilemma zwischen Gefühl und Verstand finden lassen. Ein ultimativ vernünftig-guter Mensch wäre schließlich mehr oder weniger gezwungen, seine innersten Instinkte zu verraten, ja sein menschlich-allzumenschliches Wesen aufzugeben. Der Philosoph Greene bringt die Sache auf eine letzte, absurde Spitze: „Wenn ich mich um mich selbst kümmere, nur weil ich biologisch dazu programmiert bin, meine Gene fortzupflanzen, sollte ich dann aufhören, mich um mich selbst zu kümmern?“

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