Armenische und osmanische Quellen zum Genozid: Alltag vor dem Völkermord
Eine Berliner Historikerin rekonstruiert das kulturelle Erbe der Armenier im Osmanischen Reich - aus bislang unerschlossenen Originalquellen.
Vor dem Haus in der ruhigen Wallotstraße in Halensee, das das Forum Transregionale Studien beheimatet, steht ein Polizeiwagen. Die Moderatorin der Veranstaltung, die Turkistik-Professorin Kader Konuk von der Universität Duisburg-Essen, hat Drohungen erhalten, nachdem sie in einem literaturwissenschaftlichen Seminar den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich zum Thema gemacht hatte. Auch wenn der Abend in Berlin dann störungsfrei verläuft – die Polizei vor der Tür lieferte doch das deutlich sichtbare Zeichen, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem vor 100 Jahren verübten Genozid immer noch keineswegs selbstverständlich und ungefährlich ist.
Erschließung historischer Quellen erst am Anfang
Die öffentliche Debatte kreist seit Jahren um die Frage, welche Länder den Völkermord mittlerweile als solchen anerkannt haben und mit welchen Formulierungen Staatsoberhäupter die systematischen Deportationen, Massaker und Todesmärsche in den Jahren 1915 und 1916 beschreiben. Die Erschließung der historischen Quellen aber steckt noch in den Anfängen. Das zumindest sagt die Berliner Historikerin und Islamwissenschaftlerin Elke Shoghig Hartmann. Ihr Argument ist plausibel: Es gäbe zwar etliche Sachbücher und wissenschaftliche Publikationen zum Genozid an den Armeniern, aber die wenigsten Autoren berücksichtigen dabei die primären Originalquellen. Denn dazu seien sowohl armenische als auch osmanische Sprachkenntnisse nötig. Hartmann, die selbst armenische Wurzeln hat, liest beide Sprachen – als einzige Historikerin im deutschsprachigen Raum, wie sie sagt.
Auch in Armenien und in der Türkei gibt es nur eine Handvoll Wissenschaftler, die beide Quellsprachen beherrschen. Einer von ihnen ist der Kulturanthropologe Yektan Türkyilmaz, der derzeit Fellow am Forum Transregionale Studien in Berlin ist. „Die Texte der Missionare und Botschafter werden mehr gelesen und interpretiert als die Texte der armenischen Überlebenden“, sagt er. Dazu komme, dass die politische Debatte um Anerkennung oder Leugnung des Genozids die wissenschaftliche Arbeit seit Jahrzehnten hemmt und überschattet. Und wenn geforscht wird, würden oft unbewiesene Thesen verfolgt, etwa dass sich die jungtürkische Regierung im Zuge des Ersten Weltkriegs radikalisiert habe. „Dabei wissen wir nicht sehr viel über Radikalisierung, wir wissen kaum etwas über die Entscheidungsabläufe und wir wissen wenig über die jungtürkische Ideologie in Bezug auf die Armenier“, sagt Hartmann. Grundlagenforschung fehlt an allen Ecken und Enden.
Etliche Analysen armenischer Überlebender
An Quellenmaterial mangelt es eigentlich nicht. Schon unmittelbar nach den Ereignissen von 1915 und 1916 setzte eine hitzig geführte innerarmenische Debatte ein. „Man fragte, was war das für ein Ereignis, wie konnte es dazu kommen, wer ist verantwortlich“, erklärt Türkyilmaz. Etliche Analysen erschienen in den 1920er bis 1940er Jahren, geschrieben von armenischen Überlebenden, in denen auch die Rolle der eigenen Eliten kritisch reflektiert wurde. Doch bald wurde diese publizistische Debatte zurückgedrängt. Die Frage nach der politischen Anerkennung rückte in den Vordergrund. Ab den 1960er Jahren ging es vor allem darum, „Beweise“ für den Völkermord zu sammeln – um der Leugnungskampagne der Türkei etwas entgegensetzen zu können. „Die Narrative änderten sich“, sagt Türkyilmaz.
Vielschichtiges Leben im Osmanischen Reich
Was völlig ausgeblendet wurde, war das vielschichtige Leben im Osmanischen Reich in den Jahren vor dem Völkermord. Man tat auf türkischer und armenischer Seite so, als hätte es kein Zusammenleben, kein gemeinsames kulturelles Erbe gegeben. „In der armenischen Geschichtsschreibung fehlen die osmanischen Kontexte, in der Osmanistik wiederum kommen die Armenier nicht vor“, sagt Hartmann. Dabei war es den Überlebenden damals ein großes Anliegen, die Erinnerung an ihre Dörfer und Traditionen zu bewahren.
Erinnerungsbücher an die Zeit vor dem Völkermord
In der Diaspora, oft organisiert von Landsmannschaften oder Vereinen, wurden sogar Aufrufe in Zeitungen geschaltet. So entstanden die „Houshamadyans“, Erinnerungsbücher, in denen Bilder, Texte und Geschichten bestimmter Regionen zusammengetragen wurden. „Das war der Versuch der Überlebenden nach der Erfahrung des totalen Verlustes, die wenigen erhaltenen Fragmente noch zusammenzusetzen und zu bewahren.“
Hartmann hat es sich zum Ziel gemacht, diese Erinnerungsbücher zugänglich und damit auch für die Forschung nutzbar zu machen. Auf der dreisprachigen Website www.houshamadyan.org können Leser sich dem Material entweder geografisch oder thematisch nähern. Es gibt Bilder und Aufsätze zum Thema Religion, Kultur, Wirtschaft, Politik, Bildung, Sport, die jeweils einzelnen Regionen zugeordnet sind. Die Texte seien eher beschreibend,sagt die Historikerin. „Es geht einerseits darum, das Material überhaupt zu sammeln und zu sichern, andererseits wollen wir auf der Mikroebene den Facettenreichtum aufzeigen und das Erbe rekonstruieren.“
Ermöglicht wird das Online-Projekt von privaten Spendern, die Inhalte stammen von einem kleinen Netzwerk von Wissenschaftlern unter der Leitung des Historikers Vahé Tachjian. Es sind vor allem junge Anthropologen, Sozialwissenschaftler und Historiker, teilweise aus der Türkei, teilweise aus Armenien, vor allem aber aus der armenischen Diaspora. Oft mussten die Wissenschaftler buchstäblich bei null anfangen: „Wir rekonstruieren sogar die Landkarten, die Namen der Dörfer und ihre Lage. Auch das ist alles vernichtet worden“, sagt Hartmann. Regelmäßig ruft die Redaktion auch die Leser zur Mitarbeit auf, fragt, ob die Crowd weiteres Wissen beisteuern oder Fotos aus ihren Familienalben zur Verfügung stellen kann. Die Website wird mittlerweile täglich von 500 Besuchern aus aller Welt angeklickt.
Detailverliebte Forschung statt Suche nach politischer Verantwortung
Bei der Diskussion im Forum Transregionale Studien musste sich Hartmann trotzdem kritische Fragen von anwesenden Kollegen anhören. Was denn die kleinteilige Beschäftigung mit der armenischen Alltagskultur im Osmanischen Reich bringen solle? Und ob sie dabei nicht die größeren Zusammenhänge, sprich: die Frage nach den politischen Verantwortlichen des Genozids, aus den Augen verliere? Hartmann konterte: „Ich wende mich nicht gegen Menschenrechtsarbeit oder politische Publizistik, beides hat absolut seine Berechtigung. Aber beides ersetzt keine wissenschaftliche Aufarbeitung.“ Es gehe darum, den bestehenden Debatten etwas hinzuzufügen und durch Erschließung und Kontextualisierung der Quellen den Blick auf die lokale Ebene überhaupt erst zu ermöglichen.
Welche Dynamiken spielten vor Ort eine Rolle? Wie kann man die großen Unterschiede in den Provinzen erklären? Wie wirkten wirtschaftliche Entwicklung, religiöse Konflikte und Nationalismus Anfang des 20. Jahrhunderts im Osmanischen Reich konkret ineinander? „Erst wenn wir die Details des Zusammenlebens und auch die individuellen Handlungsspielräume kennen, können wir die offenen Fragen zum Genozid beantworten“, sagt Hartmann.
Nötig ist dafür mehr als eine Handvoll Wissenschaftler weltweit. Es bräuchte Dutzende, an vielen verschiedenen Instituten, auch in Deutschland. „Es reicht nicht, wenn mal einer hingeht und in den Archiven forscht“, sagt Hartmann. „Wir brauchen eine kritische Masse, wir brauchen Kontroversen und Debatten, an denen viele Wissenschaftler beteiligt sind.“ Sie hofft, dass der Weg für eine verstärkte Forschungsförderung nun politisch geebnet ist – nachdem sowohl Bundespräsident Gauck als auch Bundestagspräsident Lammert anlässlich des 100. Jahrestages das entscheidende Wort „Völkermord“ ausgesprochen haben.
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