Gedenken an Massaker an Armeniern vor 100 Jahren: Einigkeit im Bundestag: Es war Völkermord
Ungeachtet der zu erwartenden Proteste aus der Türkei haben Vertreter aller Parteien im Bundestag die Vertreibung und Vernichtung der Armenier vor 100 Jahren klar als "Völkermord" benannt. Hollande und Putin nahmen an Gedenkfeiern in der armenischen Hauptstadt Eriwan teil.
Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat zum Auftakt der Bundestagsdebatte über das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich deren Vertreibung und Vernichtung klar als "Völkermord" benannt. "Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, war ein Völkermord", sagte Lammert am Freitag vor dem Parlament und traf damit den Tenor der Sprecher aller Fraktionen. Lammert bezog sich dabei ausdrücklich auf die völkerrechtliche Definition von Völkermord als Taten mit der Absicht, eine Volksgruppe ganz oder teilweise zu zerstören.
Es sei nicht der einzige Völkermord im 20. Jahrhundert, sagte der CDU-Politiker weiter in Anspielung auf die Vernichtung der Juden während der Nazi-Herrschaft in Deutschland. Aus Respekt vor den Opfern dürften die damaligen Verbrechen weder verdrängt noch beschönigt werden. Zuvor hatte er auf die Proteste in der Türkei verwiesen, aus deren Sicht es keinen Genozid an Armeniern gegeben hat.
Wie bereits zuvor Bundespräsident Joachim Gauck ging Lammert damit deutlich über den Antrag von Union und SPD hinaus, über den anschließend beraten wurde. Darin werden die Verbrechen an den Armeniern zwar in Zusammenhang mit dem Begriff Völkermord genannt, eine ausdrückliche Benennung erfolgt jedoch nicht. Der Beginn der Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich am 24. April 1915 jährt sich am heutigen Freitag zum hundertsten Mal.
Der SPD-Abgeordnete Gernot Erler rief die Türkei und Armenien zur Fortsetzung ihres Versöhnungsprozesses auf. „Ohne einen solchen tatsächlich von beiden Seiten ehrlich geführten Versöhnungsprozess wird das Leiden an der Vergangenheit, die Fesselung in den historischen Traumata in beiden Ländern nicht aufhören können“, sagte Erler, der Regierungsbeauftragter für die Zusammenarbeit mit Russland und Zentralasien ist, in der Bundestagsdebatte. “Ich wünsche mir türkische Schulbücher, in denen an das Leid erinnert wird“, sagte der Grünen-Chef Cem Özdemir. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen, warnte vor falscher Rücksichtnahme auf die türkische Regierung: “Bei Völkermord hört die Abwägung auf“, sagte der CDU-Politiker mit Blick auf Bemühungen, aus diplomatischen Gründen die Massaker nicht Genozid zu nennen.
Der Opposition aus Linkspartei und Grünen geht die vorbereitete Erklärung des Bundestags zum Völkermord an Armeniern vor hundert Jahren nicht weit genug. Die Linke-Abgeordnete Ulla Jelpke warf der großen Koalition im Parlament vor, immer noch übertrieben Rücksicht auf die Türkei zu nehmen. Mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan müsse endlich „Klartext“ geredet werden. Jelpke fügte hinzu: „Dieses Versteckspiel hinter sprachlichen Spitzfindigkeiten ist beschämend.“
Grünen-Chef Cem Özdemir kritisierte ebenfalls die bisherige Praxis der Bundesregierung, den Begriff Völkermord zu vermeiden. „Wir sind es den Opfern schuldig, dass niemand ausgelassen wird und alles beim Namen genannt wird.“ Auch für die Türkei sei wichtig, dass der Völkermord aufgearbeitet werde. Eine Öffnung der Grenze zu Armenien liege auch in ihrem Interesse. „Wer sich mit den dunklen Flecken der Geschichte beschäftigt, der wird nicht kleiner, sondern wächst daran.“
Tags zuvor hatte bereits Bundespräsident Joachim Gauck von "Völkermord" und einer "genozidalen Dynamik" gesprochen, "der das armenische Volk zum Opfer fiel", und von "geplanten und systematischen Mordaktionen". Auch Gauck hatte sich damit gegen die Haltung der Türkei gestellt, die als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches den Begriff des Völkermords zurückweist.
Nach diesen eindeutigen Positionierungen deutscher Spitzenpolitiker ist politischer Krach zwischen Deutschland und der Türkei zu erwarten. Der türkische Präsident Erdogan wirft den Europäern mit Blick auf die Armenier-Massaker Heuchelei vor und verbringt den Tag bei einer eigenen Gedenkfeier, die an die Opfer bei dem türkischen Sieg in der Schlacht von Gallipoli vor 100 Jahren erinnert. Zu dieser Veranstaltung hatten nach türkischen Regierungsangaben Repräsentanten aus mehr als 70 Staaten ihre Teilnahme zugesagt, darunter 20 Staatsoberhäupter. Die Nachrichtenagentur Anadolu meldete, unter den Gästen am Freitag und Samstag seien der britische Thronfolger Prinz Charles und die Regierungschefs von Australien und Neuseeland.
Türkischer Präsident Erdogan spricht von "traurigen Ereignissen"
Erdogan selbst sprach am Freitag den Nachfahren der Opfer der Massaker an den Armeniern sein Beileid aus. „An diesem Tag, der für unsere armenischen Bürger eine besondere Bedeutung hat, gedenke ich aller Osmanischen Armenier mit Respekt, die unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges ihr Leben verloren haben“, erklärte er. „Ich spreche ihren Kindern und Enkeln mein Beileid aus.“ Der Staatspräsident sprach im Zusammenhang mit den Massakern von „traurigen Ereignissen“.
Türkische Medien "schockiert" über Gauck-Rede
Türkische Medien reagierten mit teils scharfer Kritik an den gestrigen Äußerungen des Bundespräsidenten. Gaucks Äußerungen seien "schockierend" gewesen, schrieb die Onlineausgabe der Zeitung "Hürriyet" am Freitag.
Die regierungsnahe Zeitung "Sabah" warf Gauck vor, das Osmanische Reich mit "hässlichen Worten" beschrieben zu haben. Beim ebenfalls regierungsfreundlichen Blatt "Yeni Safak" hieß es, Gauck habe mit seiner Rede seine Befugnisse überschritten. Die Zeitung "Star" kommentierte, der deutsche Präsident habe die Osmanen beinahe als Terroristen bezeichnet.
Von der türkischen Regierung lag zunächst keine Reaktion auf Gaucks Ansprache vor. Kritik an demokratischen Defiziten in der Türkei hatten Gauck im vergangenen Jahr während eines Besuchs in dem EU-Bewerberland heftige Kritik der Regierung eingebracht.
Putin und Hollande nahmen an Gedenen in armenischer Hauptstadt teil
Die Südkaukasusrepublik Armenien begrüßte dagegen die Anerkennung des Völkermords vor 100 Jahren im Osmanischen Reich durch Bundespräsident Gauck. Mit diesem Schritt zolle Deutschland den unschuldigen Armeniern Tribut, die damals getötet worden seien, teilte Außenminister Edward Nalbandjan am Freitag in der Hauptstadt Eriwan mit. Deutschlands Anerkennung der Ermordung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern sei auch ein wichtiger Beitrag, um Genozide künftig zu verhindern, sagte er Berichten zufolge.
Hunderttausende Armenier gedenken an diesem Freitag in Eriwan der Gräueltaten gegen ihr Volk, die am 24. April 1915 mit der Verhaftung Intellektueller im damaligen Konstantinopel (heute Istanbul) begannen. Bei den Massakern im Osmanischen Reich wurden bis zu 1,5 Millionen Armenier ermordet. Das Gedenken wurde mit einer Schweigeminute eingeleitet. Armeniens Präsident Sersch Sarkissjan legte an der zentralen Gedenkstätte für die hunderttausenden Opfer Blumen nieder. "Nichts ist vergessen, nach hundert Jahren erinnern wir uns", sagte Sarkissijan.
An der Zeremonie in der Gedenkstätte auf einem Hügel am Rande der Innenstadt von Eriwan nahmen Frankreichs Präsident François Holland, Russlands Staatschef Wladimir Putin und weitere Politiker aus dem Ausland teil. Sarkissjan dankte den internationalen Gästen für ihre Verbundenheit mit dem armenischen Volk. Zugleich forderte er die Türkei auf, die Massaker im Osmanischen Reich als Völkermord anzuerkennen. Hollande sagte, er verneige sich vor den Opfern. "Wir werden die Tragödie, die Ihr Volk erduldet hat, niemals vergessen", versicherte er. In der Türkei seien bereits "wichtige Worte" geäußert worden, doch würden noch weitere erwartet, sagte der französische Präsident. Frankreich wertet die Massaker selbst als Völkermord. Putin sagte, Massenmorde seien durch nichts zu rechtfertigen. Das russische Volk verneige sich an der Seite der Armenier. Russland, das ein enger Verbündeter Armeniens ist, spricht ebenso wie rund 20 weitere Länder von einem Völkermord.
Nichtstaatliche Gedenkfeiern in der Türkei
Auch in der Türkei wurde an die Ereignisse vor 100 Jahren erinnert - allerdings mit nichtstaatlichen Gedenkfeiern. Dutzende Menschen versammelten sich am Morgen in jenem Viertel von Istanbul, in dem am 24. April 1915 die ersten armenischen Intellektuellen verhaftet wurden. Im armenischen Patriarchat kamen die Gläubigen zu einem Gedenkgottesdienst zusammen. Als erster türkischer Regierungsvertreter wollte EU-Minister Volkan Bozkir an der Gedenkfeier teilnehmen. Zudem wurde eine Grußbotschaft von Präsident Recep Tayyip Erdogan erwartet. Die Kundgebungsteilnehmer in Istanbul trugen Bilder der am 24. April 1915 verhafteten Armenier bei sich. Im Laufe des Tages war noch eine Reihe weiterer Gedenkkundgebungen in Istanbul und im südostanatolischen Diyarbakir geplant. (Tsp/AFP/dpa)