Angststörung und Panikattacken: 75 Prozent der psychischen Erkrankungen vor dem 24. Lebensjahr
Angsterkrankungen sind bei Kindern und Jugendlichen am weitesten verbreitet. Doch man kann etwas dagegen tun, sagt Christoph Correll von der Charité.
Christoph Correll ist Direktor der psychiatrischen Klinik für Kinder und Jugendliche der Charité Berlin und spricht im Interview über Angsterkrankungen und Panikstörungen im Kindes-, Jugend- und jungen Erwachsenenalter.
Herr Correll, was ist Angst?
Angst kann an sich erst einmal ein überlebensstrategisch wichtiges Signal sein: Man hat Angst vor Dingen, die gefährlich sind. Entwicklungsgeschichtlich hatte das durchaus Vorteile für das Überleben der Spezies. Angst hilft, Gefahren und Risiken des eigenen Handels abzuschätzen. Man reguliert dadurch sein Verhalten entweder als Individuum oder als Gruppe. Wenn man ein bisschen ängstlicher war, gefährliche Dinge gemieden hat und mit mehr Vorsicht durchs Leben gegangen ist, hatte das natürlich einen Überlebensvorteil. Diese Angstveranlagung hat sich bis heute in uns erhalten.
Wann wird diese „gesunde“ Angst zu einer Angsterkrankung?
Im Allgemeinen kann man sagen: psychische Erkrankungen sind nicht selten. Einer von drei Menschen wird im Laufe seines Lebens eine psychische Erkrankung bekommen. Die häufigste darunter ist die Angsterkrankung. Aber wie alles im Leben hängt die Gefahr eines Gifts von der Dosis ab. Wenn Dinge oder Erlebnisse, die eigentlich nicht gefährlich sind, das Angsterleben hervorrufen, kann das zu subjektivem Leid oder einer funktionellen Einschränkung führen, die das Merkmal von Erkrankungen sind. Symptome an sich bedeuten noch keine Krankheit: Diese wird durch die zusätzliche Dimension von Leiden oder funktioneller Beeinträchtigung definiert. Die häufigste Angsterkrankung ist die simple Phobie, also Spinnen- oder Schlangenphobie oder die Höhenangst.
Welche Symptome zeigen sich dann?
Angst kommt aus dem Lateinischen und steht für Enge – es wird einem eng ums Herz, man hat Druck auf der Brust, atmet ganz schnell, bekommt keine Luft mehr bis hin zu Erstickungsgefühlen. Herzrasen, Schwitzen, weite Pupillen, Zittern und ein Kloß im Hals sind weitere Symptome. Teilweise hat man Todesangst, man muss irgendwie aus der Situation weg, weil man das Gefühl hat, man erträgt es nicht. Dabei wird Adrenalin ausgeschüttet, ebenso wie das Stresshormon Cortisol. Man wird überschwemmt von dem Angstgefühl und den Botenstoffen im Hirn.
Und diese Angst wird dann zur Panik?
Genau, wenn all das rasch ansteigt und einen Höhepunkt erreicht, der einen völlig überwältigt, spricht man von einer Panikattacke. Wenn man praktisch meint, die Kontrolle zu verlieren und der Körper sowie die Seele sich selbstständig machen.
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In welchem Alter entwickeln die Betroffenen solche Ängste?
Angsterkrankungen treten in der Regel relativ früh im Leben auf und haben ihren Erkrankungsgipfel bereits in der Kindheit und Jugend. 50 Prozent der psychischen Erkrankungen beginnen vor dem 14. Lebensjahr, 75 Prozent vor dem 24. Lebensjahr. Insbesondere in der Zeit des Kindes-, Jugend- und jungen Erwachsenenalters, in der sich das Hirn noch stark und wir uns biologisch und psychosozial weiterentwickeln, ist die Anfälligkeit für solche Erkrankungen sehr hoch. Da viele der Ängste nicht ganz so stark sind oder Menschen sich damit einrichten und es ja ein allgemein humanes Gefühl ist, werden Ängste oft sehr spät erkannt und behandelt. Die Betroffenen leben dann in einer großen Einschränkung, in der sie sich an diese Angst anpassen und oft von ihr dominieren lassen.
Kann sich diese Dominanz noch steigern, wenn sie nicht behandelt wird?
Genau, man lernt in die falsche Richtung. Man lernt: Vermeiden ist gut und wenn dann etwas passiert, ist die Angst dann umso größer und man zieht sich noch mehr zurück. Man zieht praktisch im Haus der Angst ein.
Warum entwickeln einige Menschen Angststörungen und andere nicht?
Die genetische Veranlagung spielt eine wichtige Rolle. Es gibt Menschen, die auf Stress mit Rückzug reagieren, ängstlich oder depressiv werden. Wieder andere reagieren mit Aggression. Das hat zum einen etwas mit der genetischen Ausstattung zu tun und zum anderen damit, welche Verhaltensweisen oder Bewältigungsstrategien die jeweilige Person durch das Umfeld erlernt hat. Dem einen helfen beispielsweise die Suche nach einem Gespräch, Aktivität oder Entspannung. Andere flüchten sich in Medienkonsum oder nutzen Alkohol- oder Substanzgebrauch als schnelle angstlösende Hilfe. Diese Strategien können mehr oder minder konstruktiv sein.
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Was hat es mit der „Angst vor der Angst“ auf sich?
Ja, die sogenannte „Phobophobie“ – das ist der von mir benannte Einzug ins Haus der Angst. In dem Moment, wo man Angst vor der Angst hat, geht man nicht mehr raus. Es gibt Leute, die zwar Panikattacken haben, aber trotzdem nur wenig in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Die Menschen, die allerdings schon im Vorfeld denken, dass sie Panikattacken haben könnten, setzen sich der vermeintlichen Gefahr und der Welt fast gar nicht mehr aus. Dann verselbstständigt sich die Angst und verändert das Verhalten des Betroffenen tiefgreifend. Panik fühlt sich für viele wie Todesangst an. Das möchten die Betroffenen vermeiden und nehmen dafür viele Einschränkungen in Kauf.
Sie leiten die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charité. Welche Angstpatienten sind bei Ihnen in Behandlung?
Wir haben viele Patienten mit Schulphobien, bei der die jungen Menschen Angst haben, zur Schule zu gehen. Bei der sozialen Phobie haben die Betroffenen Angst, sich bloßzustellen und zu versagen. Viele haben Angst, vor den Mitschülern zu sprechen, wenn sie aufgerufen werden. Oft sind das sogar intelligente Schüler, die aber schlechte Noten bekommen, weil sie einfach so stark in diesem Angstkorsett gefangen sind. Zudem werden diese Schüler dann teilweise noch gehänselt, was schnell passiert, wenn jemand so verschüchtert und verstört ist – eine Spirale, die dazu führen kann, dass diese Kinder und Jugendlichen dann monatelang nicht mehr zur Schule gehen.
Also ist bei Ihren Patienten vor allem die soziale Phobie verbreitet?
Nein, darüber hinaus gibt es auch noch die generalisierte Angststörung, bei der Patienten ohne genaue Gründe und Ursachen vor vielen Alltags- und Zukunftssituationen Angst haben und so ihren Handlungsradius beschränken, zudem Schlafstörungen entwickeln können oder auch depressiv werden. Und dann gibt es auch noch Ängste, die mit Missbrauchs- und traumatischen Erfahrungen zu tun haben.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Für all diese Angststörungen, inklusive Panikattacken, gibt es sehr wirksame psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten. Und wenn diese nicht ausreichend wirksam sind, kann auch medikamentös unterstützend geholfen werden. Am schlimmsten ist es, wenn Menschen ins Haus der Angst einziehen und dort verharren und keine Hilfe suchen und finden. Das schneidet sie davon ab, viele ihrer Möglichkeiten zu sein, sich und andere Menschen zu erfahren, auszuleben. Das ist dann verlorene Lebens- und Entwicklungszeit.
Seit Mitte März waren die Schulen wegen des Coronavirus geschlossen. Ein Vorteil für Ihre Patienten, die sich nicht in die Schule trauen?
Wir führen gerade eine Studie dazu durch, was die positiven und negativen Einflüsse der Coronavirus-Pandemie sind, auch bezogen auf die auferlegten Beschränkungen. Für Patienten mit Angststörungen stellt die derzeitige Situation erst einmal eine Entlastung dar. Das ist wieder die Strategie der Vermeidung: In der Schule gibt es soziale Interaktionen, wo nicht immer jeder ein Gewinner ist. Für die, die gemobbt werden, ist es natürlich besser, nicht in der Schule zu sein. Auch für die, die sich Sorgen machen, vor anderen zu sprechen und Angst haben, sich bloßzustellen, ist es leichter, online und per Videochat zu lernen. Das ist die Subgruppe, der es derzeit tatsächlich besser geht. Aber dieser Gruppe wird eben derzeit auch die Möglichkeit genommen, sich sozial zu erproben, zu wachsen und ihre Ängste handelnd zu überwinden, um wieder freier aus dem Haus der Angst ins Leben gehen zu können.