Tiefseeforschung: 2014 - ein Jahr mit Tiefgang
Im März verschwindet ein Flugzeug - die Suche danach zeigt, wie wenig der Mensch über die Ozeane weiß. Doch mit neuen Techniken entdecken Forscher immer mehr Geheimnisse der ewigen Dunkelheit.
Um 1.20 Uhr traf das letzte Lebenszeichen ein. Dann verlor die Bodenkontrolle den Kontakt zur Boeing. 239 Menschen, gestartet am 8. März kurz nach Mitternacht in Kuala Lumpur mit Kurs auf Peking, sind seitdem verschwunden. Bis heute ist es nicht gelungen, ihre Leichen zu bergen. Der mysteriöse Fall des Flugs MH 370 der Malaysia Airlines gibt viele Rätsel auf.
Wie kann ein Großraumjet einfach weg sein – in einer Welt, die so lückenlos überwacht zu sein scheint, von Geheimdiensten an Telefonleitungen, von hunderten Satelliten im Weltraum?
Nach allem, was man bisher herausgefunden hat, ist die Maschine vermutlich in den Indischen Ozean gestürzt, irgendwo westlich von Australien. Die Suche dauert an, bisher ohne Erfolg. Und mit jedem weiteren Tag wird offenbar, wie unbekannt die Tiefsee bis heute ist.
Ein Fisch - mehr Maul als alles andere - gleitet durch einen Unterwassercanyon
Selbst Wissenschaftler, die seit langem die Unterwasserwelt erkunden, sind immer wieder überrascht, was sie dort entdecken. Das gilt besonders für das zu Ende gehende Jahr. Expeditionen haben mehr Licht ins ewige Dunkel gebracht. Neue Techniken versprechen ungleich detailliertere und langfristige Beobachtungen – aber auch den Beginn der Rohstoffgewinnung aus der Tiefsee, deren Folgen kaum abzuschätzen sind.
Im November haben Wissenschaftler des Monterey Bay Aquarium Research Institute (MBARI) ein Video aus 600 Metern Tiefe veröffentlicht: Erstmals gelang es ihnen, einen Schwarzanglerfisch in seiner natürlichen Umgebung zu filmen. Ein gruseliges Tier, das mehr Maul als alles andere ist, gleitet dort elegant durch die Nacht eines Unterwassercanyons vor der kalifornischen Küste.
Seinen Namen hat es von einem kleinen Leuchtorgan, das wie eine Angel vor dem Maul hängt und mit seinem Lichtschein Beutefische anlockt. Vor wenigen Tagen erst berichteten US-Forscher, im Marianengraben eine bislang unbekannte Fischart entdeckt zu haben. 8143 Meter tief filmten sie den weiß-durchsichtigen Fisch, der zu der Familie der Scheibenbäuche gehört. So tief sei noch niemals ein Fisch beim Schwimmen gefilmt worden, sagen die Forscher.
Üppige Korallenstädte, hunderte Meter tief im Meer
Das zeigt, dass es trotz absoluter Finsternis in Tiefen jenseits von 200 Metern gleichwohl Leben gibt. Sogar ein recht üppiges, wie Dierk Hebbeln vom Bremer Meeresforschungszentrum Marum berichtet. Er und seine Kollegen haben in den vergangenen Jahren mehrere Kaltwasserkorallenriffe entdeckt, die bis zu einem Kilometer unter der Wasseroberfläche liegen.
Wie ihre Pendants im flachen, tropischen Wasser, sind auch die Tiefwasservarianten wahre Lebensoasen. „Dort gibt es bis zu 4000 verschiedene Arten, zahlreiche Fische haben da ihre Kinderstube, weil sie besser vor Räubern geschützt sind“, sagt der Forscher. Im Frühjahr haben er und sein Team vor Marokko durch ein solches Riff hindurchgebohrt. 70 Meter dick ist die Kalkschicht, die unzählige Generationen von Korallen aufgebaut haben. Rund eine Million Jahre Leben stecken darin, schätzt Hebbeln.
Je genauer Kaltwasserkorallen erforscht werden, umso besser verstehen die Biologen, wie das Leben in der Tiefe organisiert ist. Forscher erhoffen sich, in den Tiefwasserstädten medizinische Wirkstoffe zu finden. Vor allem Schwämme stünden dabei im Fokus, sagt Hebbeln.
Leben bis in tiefste Täler - und sogar mitten im Meeresboden
Je tiefer es hinabgeht, umso weniger Nahrung ist verfügbar. Dort dominieren mikroskopisch kleine Lebewesen. Sie bevölkern auch Gegenden, die lange Zeit als „nicht bewohnbar“ galten, weil es zu kalt und der Wasserdruck zu groß ist. „In den letzten beiden Jahren sind Untersuchungen zu extremen Umwelten gemacht worden, die die Grenzen des Lebens noch einmal deutlich verschoben haben“, sagt Antje Boetius vom Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie in Bremen. „Selbst in elf Kilometern Tiefe haben Forscher noch biologische Aktivität gemessen.“
Nicht nur bis in die tiefsten Tiefen der Ozeane ist das Leben vorgedrungen, es steckt auch noch darunter. Marum-Forscher Kai-Uwe Hinrichs hat bereits zweieinhalb Kilometer tief in den Meersboden vor Japan gebohrt und Proben in sein Labor nach Deutschland gebracht. Bei den Untersuchungen, die nach wie vor laufen und deren Ergebnisse noch weitgehend unveröffentlicht sind, stellte sich heraus: Selbst tief im Sediment gibt es spezialisierte Bakterien, die kleinste organische Reste verwerten und sich so durchkämpfen. Solche Organismen im Meeresboden spielen eine wichtige Rolle: Sie sind maßgeblich an der Bildung von Methanhydraten beteiligt, die weltweit an den Kontinenträndern vorkommen und als Energiequelle der Zukunft gehandelt werden. „Allerdings habe ich das Gefühl, dass bei gut zwei Kilometern Tiefe im Boden die Grenze des Lebens nahe ist“, sagt Hinrichs. Weiter unten gebe es vermutlich nicht mehr genug Energie, die die Mikroben erschließen können.
Auch Astrobiologen erkunden die Tiefsee, wollen wissen, ob Eismonde belebt sein könnten
Im Vergleich dazu leben die Bakterien, die Boetius mit ihrem Team im Sommer nördlich von Grönland entdeckt hat, im Schlaraffenland: 4000 Meter unter dem Meersspiegel gewinnen sie ihre Energie aus Methan und Metallen wie Eisen und Mangan, die in heißen Quellen aus dem Meeresgrund enthalten sind.
Auf den ersten Blick mag es verblüffen, dass auch Astrobiologen, also Forscher, die sich mit dem Leben jenseits der Erde befassen, an solchen Tiefseeforschungen beteiligt sind. „Eine der großen Fragen lautet: Was sind die Grenzen des Lebens im All?“, erläutert Boetius. „Um das herauszufinden, muss man die Grenzen des Lebens auf der Erde kennen.“ Welchen Druck, welche Temperatur hält Leben aus? Kann es in einem eisbedeckten Meer entstehen und dauerhaft existieren? Genau darum geht es bei der Annahme, dass Eismonde wie Enceladus, Europa oder Callisto unter ihrer frostigen Kruste belebt sein könnten. Es wird noch viele Jahre dauern, bis eine Raumsonde dorthin fliegen und die harte Hülle durchbohren kann, um nachzuschauen. „Je mehr über solche extremen Lebenswelten auf der Erde bekannt ist“, sagt Boetius, „umso besser weiß man, wonach man auf einem anderen Himmelskörper suchen muss.“
Der Ozean wird immer besser überwacht
Bislang kennen die Wissenschaftler aber nur winzige Ausschnitte der extremen Lebenswelt auf unserem Planeten. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis die Festländer der Erde einigermaßen erschlossen waren. Die Meere hingegen, die mehr als zwei Drittel der Fläche einnehmen, sind viel schwieriger zu erkunden. Erst seit rund 20 Jahren ist es möglich, die Tiefe mithilfe von Tauchrobotern zu erforschen. Und die technischen Möglichkeiten werden immer besser.
Vielversprechend ist die Ocean Observatories Initiative (OOI) in den USA. Knapp 400 Millionen Dollar kostet der Verbund von Unterwassersensoren, -kameras und -robotern, einige Teile arbeiten bereits, der Rest folgt im nächsten Jahr. OOI soll den Forschern ermöglichen, „live“ Meeresströmungen zu verfolgen, physikalische und chemische Daten zu sammeln, um das Leben in der Tiefsee grundlegend zu verstehen.
Roboter gründeln unterm Eis
Die Idee, statt einzelne Messungen vorzunehmen, länger zu beobachten, ist nicht neu. Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven fahren seit Jahren jeden Sommer in die Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen und nehmen Proben aus der Tiefsee. Im Winter ist das nicht möglich, denn dann ist der Nordatlantik zugefroren. Darum haben die Forscher „Tramper“ entwickelt: Der Tiefseeroboter robbt auf Ketten über den Meeresgrund und wird zu festgelegten Zeiten den Sauerstoffgehalt im Boden messen, was den Forschern verrät, wie aktiv die Bakterien in zweieinhalb Kilometer Tiefe sind. Im nächsten Sommer soll Tramper vom Haken gelassen werden und dank einer starken Batterie ein Jahr lang seinen Forschungsjob machen – bis er per Schallsignal von oben den Befehl bekommt, seine Stahlplatten abzuwerfen: Dann steigt er auf und wird wieder eingesammelt.
Noch raffinierter ist das „Viator“-System: Wie bei einer Weltraummission wird ein „Lander“ zu Boden gelassen, der den „Crawler“ freigibt, einen mobilen Roboter mit einem Kettenantrieb. An Viator arbeiten Ozean- und Raumfahrtexperten gleichermaßen, es ist eine Kooperation des Kieler Meeresforschungszentrums Geomar und des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz in Bremen. Das Ziel: ein einigermaßen intelligenter Forschungsroboter, der eine Fülle von Messgeräten einsetzen kann – vom Sensor für den Salzgehalt bis zu einem für Chlorophyll.
Viator braucht natürlich mehr Strom als Tramper, deshalb kehrt er regelmäßig zum Lander zurück, lädt seinen Akku auf – per Induktion wie eine elektrische Zahnbürste – und überträgt aktuelle Messwerte. Um sich zu orientieren, hat er eine Stereokamera und einen Linienscanner, mit denen er ein 3-D-Bild seiner Umgebung erstellen und beispielsweise Felsbrocken ausweichen kann. Zumindest in der Theorie und bei Versuchen an Land. Der Praxistest im Meer soll 2017 sein.
Bergbaufirmen wollen Erze vom Meeresgrund holen
Die Fortschritte in der Tiefseetechnik sind auch für Bergbaufirmen interessant. Sie wollen Erze abbauen, wie sie etwa an heißen Quellen abgeschieden werden, oder kartoffelgroße Manganknollen ernten, die am Meeresgrund liegen. Zahlreiche Erkundungslizenzen wurden bereits vergeben, auch an Deutschland. Nach zehn Jahren können sie in eine Abbaulizenz umgewandelt werden.
Am weitesten ist die kanadische Firma Nautilus Minerals. Im Frühjahr hat sie ihren submarinen Erzschürfer vorgestellt: groß wie ein Doppelstockbus, ausgestattet mit einer großen Walze, auf der armlange Hartmetallmeißel sitzen. Nach aktuellen Planungen könnte das Ungetüm 2017 vor Papua-Neuguinea loslegen.
Forscher warnen jedoch, dass die Folgen für die sensible Meeresumwelt kaum abzuschätzen seien, wenn etwa mächtige Sedimentwolken über den Grund ziehen und das filigrane Leben unter sich begraben. Sie fordern, dass die ersten Abbauaktivitäten genau überwacht werden und große Ausgleichsflächen ausgewiesen werden sollten, in denen die Natur garantiert in Ruhe gelassen wird. Zumindest vom Bergbau.
Die Fischereiflotten pflügen derweil weiter über die Meere – und mit ihren Netzen über den Grund. Immer wieder stellen die Forscher fest, dass ein eben entdecktes Kaltwasserriff bereits tiefe Furchen von Schleppnetzen zeigt, sagt Dierk Hebbeln. „Da werden Dinge zerstört, von denen wir oft gar nicht wissen, dass sie da sind.“
Ralf Nestler