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Verbraucher:innen müssen wohl auch künftig für Lebensmittel tiefer in die Tasche greifen.
© Jens Kalaene/zb/dpa

Verbraucherpreise enorm gestiegen: „Wir werden mit weiteren Steigerungen leben müssen“

Was hat Energie und Waren zuletzt so viel teurer gemacht? Und wie hoch steigt die Inflation noch? Simon Junker, Konjunkturexperte des DIW, gibt Antworten.

Der Vergleich hat viele aufgeschreckt: Von Juli 2020 bis Juli 2021 sind die Verbraucherpreise so stark angestiegen wie seit 25 Jahren nicht mehr, um durchschnittlich 3,8 Prozent. Besonders Energie (plus 11,6 Prozent) und Nahrungsmittel (plus 4,3 Prozent) verteuerten sich nach den vorläufigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Ein einmaliger Ausreißer oder Grund zur Sorge vor der Inflation? Simon Junker ist Stellvertretender Abteilungsleiter für Konjunkturpolitik am Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Er erklärt die Hintergründe der Teuerung und worauf Verbraucher:innen sich nun einstellen müssen.

Herr Junker, im Juli lagen die Verbraucherpreise 3,8 Prozent über dem Vorjahresmonat. Das ist die höchste Steigerung seit 25 Jahren. Wie kam es dazu?
Es gibt mehrere Faktoren. Zum einen die vorübergehende Mehrwertsteuersenkung im zweiten Halbjahr 2020: Die Steuersätze lagen im Juli 2020 deutlich unter denen im Juli 2021, den Preiseffekt davon kann man allein mit einem knappen Prozentpunkt veranschlagen. Außerdem gab es wahnsinnige Bewegungen beim Thema Energie: Der Rohölpreise war im Frühjahr 2020 pandemiebedingt kollabiert, mittlerweile hat er sich wieder in normale Regionen bewegt. Das macht ebenfalls einen knappen Prozentpunkt der gesamten Preissteigerung aus. Ein weiterer, wenn auch wesentlich kleinerer Preisschub kam durch die Knappheiten bestimmter Waren zustande, die wir wegen der Verwerfungen im Frachtverkehr beobachten.

Ist das ein Grund zur Sorge oder handelt es sich nur um vorübergehende Effekte?
Wenn man die genannten Faktoren herausrechnet, bleiben immer noch rund zwei Prozent unterliegende Inflation. Auch das ist schon eine Beschleunigung. Aber größtenteils spiegelt die Preissteigerung vorübergehende Effekte wider. Allerdings werden wir mit diesen noch ein wenig leben müssen.

Wie lange denn?
Einen positiven Pandemieverlauf vorausgesetzt, haben wir diese Unwuchten in den nächsten Monaten, vielleicht zwei bis drei Quartalen wieder austariert. Bis dahin könnte die Inflationsrate aber noch um wenige Zehntel höher steigen.

Die Bundesbank geht für Deutschland sogar von bis zu fünf Prozent Inflation in diesem Jahr aus.
Ob sie wirklich so hoch wird, weiß ich nicht. Aber die Vier vor dem Komma wird schon noch kommen.

Welche Rolle haben die Corona-Lockdowns bei den gestiegenen Verbraucherpreisen gespielt?
Was wegen des Lockdowns nicht für Dienstleistungen und Kultur ausgegeben wurde, ist entweder gespart – die Sparquote in Deutschland ist deutlich angestiegen – oder in zusätzliche Waren investiert worden. Man hat beispielsweise viel mehr Einrichtungsgegenstände bestellt. Wer im Homeoffice ist, will es zuhause auch schön haben. Das hat zu Nachfrageschüben in bestimmten Sparten geführt, wo es auf der Angebotsseite ohnehin schon Probleme gab, weil Menschen wegen Quarantäne oder Lockdown nicht arbeiten durften. Also stiegen die Preise. Aber wenn Dienstleistungen wieder stärker möglich sind, wird man dafür auch wieder mehr Geld ausgeben, entsprechend wird die überschüssige Nachfrage an anderer Stelle abebben.

Simon Junker ist Stellvertretender Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).
Simon Junker ist Stellvertretender Leiter der Abteilung Konjunkturpolitik am Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).
© DIW

In welche Bereichen müssen Verbraucher:innen sich auf weitere Preissteigerungen einstellen?
Bei Dienstleistungen, die aktuell besonders beliebt sind: Die Nachfrage nach Reisen innerhalb Deutschlands dürfte aktuell höher liegen als normal. Sie bieten angesichts der Delta-Variante einfach mehr Planungssicherheit als der Flug nach Spanien oder Griechenland. Die Kapazitäten werden hier aber nicht so schnell reagieren können, was immer ein Argument dafür ist, dass die Preise steigen. Ein anderes Beispiel ist die Gastronomie: Hier könnte die Nachfrageflut nach dem Lockdown für höhere Preise genutzt werden. Die Lokale müssen zusehen, dass sie die Verluste der vergangenen Monate wieder reinholen. Gleichzeitig dürfen sie nach wie vor viel weniger Gäste empfangen als vor der Pandemie. Bei den Waren ist die Frage schwieriger zu beantworten. Hier sehen wir immer noch Verzögerungen in den Lieferketten, eine besonders medienwirksame war die Havarie im Suezkanal. Dieses Problem hält an und kann sich auch noch verschärfen.

Also wird es so kommen, wie die Gewerkschaften befürchten – dass 2021 zum ersten Mal seit zehn Jahren die Tariflöhne langsamer steigen werden als die Verbraucherpreise?
Ja, der Unterschied wird immens sein. Die Pandemie hatte auch in Deutschland massive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Millionen Menschen waren in Kurzarbeit und trotzdem ist die Arbeitslosigkeit im vergangenen Jahr in die Höhe geschnellt. Man hat sich auch mit geringeren Lohnabschlüssen zufriedengegeben. Das wirkt sich noch in dieses Jahr hinein aus: Der Tariflohnanstieg dürfte unter zwei Prozent liegen, die Inflation hingegen im Jahresdurchschnitt drei Prozent betragen.

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Die Europäische Zentralbank (EZB) hat zuletzt ihre Inflationsziele so angepasst, dass künftig defacto höhere Inflationsraten in Kauf genommen werden. Ist das ein Eingeständnis, dass wir uns auch langfristig auf steigende Preis einstellen müssen?
Nicht unbedingt. Die EZB sagt mit ihren neuen Zielen letztlich: Wir akzeptieren es, dass vorherige Abweichungen nach unten – jahrelang war die Inflation immer niedriger als das formulierte Ziel – mit künftigen Abweichungen nach oben ausgeglichen werden. Wenn man jahrelang unter der Grenze lag und anschließend ein bisschen mehr Beschleunigung in Kauf nimmt, ist das kein Problem. Vergangenes Jahr hatten wir in Deutschland beispielsweise eine Inflationsrate von 0,5 Prozent. Selbst wenn wir dieses Jahr an die vier Prozent rankämen: Im Durchschnitt beider Jahre lägen wir dann immer noch bei etwa zwei Prozent. Vor allem durch die Mehrwertsteuer gab es Sondereffekte, aber im Grunde ist nichts Dramatisches passiert. Wir sind von den Preisen her am Ende dieses Prozesses da, wo wir bei einer gleichmäßigen Inflation auch gelandet wären – nur eben etwas ungleicher verteilt.

Sehen Sie gar keine Faktoren, die langfristiger die Inflation treiben könnten?
Alles, was wir jetzt erleben, sind vorübergehende Knappheiten, die die Kosten der Unternehmen steigen lassen, an die Kund:innen weitergegeben werden, aber dann irgendwann auch verschwunden sind. Ein wirkliches Problem wäre es, wenn auch langfristig die Kosten der Unternehmen steigen. Ein Inflationstreiber könnten steigende Arbeitskosten sein. In den vergangenen Jahrzehnten ist das globale Arbeitsangebot immer gewachsen und hat den Lohnauftrieb stets gedämpft. Doch das dreht sich jetzt beispielsweis in Deutschland durch den demographischen Wandel. Das könnte in den kommenden vier bis sechs Jahren dazu führen, dass die Löhne stärker steigen und damit auch die Preise. Und dann gibt es noch durch den Klimawandel herbeigeführte Phänomene wie die aktuellen Waldbrände in unterschiedlichen Ländern, die die Holzpreise in die Höhe schnellen lassen. So etwas wird sich immer wieder vorübergehend in den Verbraucherpreisen niederschlagen.

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