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„Die Menschen sind heute so zufrieden wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr“, sagt Gert G. Wagner. Sein Rezept für eine zufriedene Gesellschaft: Die Arbeitslosigkeit muss niedrig bleiben.
© Mike Wolff

Wirtschaftsforscher Gert G. Wagner: „Wir sollten Urlaubs- in Feiertage umwandeln“

DIW-Vorstandsmitglied Wagner spricht im Interview über das Lebensglück der Bürger, die wachsende Spaltung der Gesellschaft und die Integration von Flüchtlingen.

Herr Wagner, wie kaltherzig ist die deutsche Gesellschaft?
Bei weitem nicht so kaltherzig, wie es in vielen Medien dargestellt wird. Ich selbst würde den Begriff gar nicht im Hinblick auf eine Gesellschaft verwenden. Ich halte mich lieber an aussagekräftige Statistiken. Und da sieht man, dass die Menschen heute nach eigenen Angaben so zufrieden sind wie noch nie seit der Wiedervereinigung – auch der Anteil der richtig Unzufriedenen ging in den letzten Jahren zurück. So kaltherzig kann unsere Gesellschaft also nicht sein. Was wohl auch erklärt, wieso linke Parteien Probleme haben, Mehrheiten zu bekommen.

Was ist denn das Hauptkriterium für eine zufriedene Gesellschaft?
Am wichtigsten ist, dass die Arbeitslosigkeit niedrig ist. Die Einkommen spielen gar keine so große Rolle. Ist die Arbeitslosigkeit hoch, haben viele Menschen Angst, ihren Job zu verlieren, und die, die ihn verloren haben, sind deutlich unzufriedener als zuvor.

Wie würden Sie Deutschland auf einer Schulnotenskala für soziale Gerechtigkeit bewerten?
Da liegen wir nur bei 4,3, denn Gerechtigkeit ist etwas anderes als Zufriedenheit.

Das heißt?
Wir haben seit Jahrtausenden ein Problem bei der Chancengerechtigkeit. Heutzutage haben es Kinder aus Elternhäusern, die bildungsschwach sind, noch immer schwer, aufzusteigen. Dazu kommt, dass wir immer noch nicht allgemein akzeptiert haben, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind. Würden wir uns systematischer um die Integration von Einwanderern kümmern, hätten ihre Kinder mehr Chancen.

Die Bildung ist also das primäre Problem?
Ja.

"Man muss die Mystifizierung von Reichtum beenden"

Wir wissen viel über das Leben der Armen in Deutschland, aber wenig über die Reichen. Warum?
Das Problem der Statistik ist schlicht und einfach, dass es nur sehr wenig richtig reiche Menschen in Deutschland gibt. Hier leben so wenig Milliardäre, dass wahrscheinlich noch nicht einmal ein Einziger in der Stichprobe des Mikrozensus auftaucht, obwohl sie 800 000 Menschen umfasst. Es ist statistisch ganz schwer, die Gruppe der Reichen oder gar der Superreichen zu erfassen.

Ein Team des DIW tüftelt an einem neuen Forschungsprojekt, um mehr über diese Gruppe zu erfahren. Wie geht das?
Es gibt Datenbanken von Unternehmern, und da fast alle wirklich Vermögenden unternehmerisch tätig sind, wollen wir daraus eine Stichprobe ziehen, und dann versuchen, möglichst viele davon zu überzeugen, an der Erhebung teilzunehmen. Wir werden aber nicht nur nach ihrem Geld fragen, sondern auch nach ihrer Arbeitsbelastung und ihren ehrenamtlichen Tätigkeiten.

Wie wichtig ist es, mehr über die Reichen zu erfahren?
Ich halte es für immens wichtig, um die Mystifizierung von Reichtum zu beenden. In der gesamten Menschheitsgeschichte hat Reichtum immer mehr fasziniert als Armut, weil der Durchschnittsbürger von Reichtum in seinem Alltag nichts mitbekommt, sondern das Verhalten der Reichen nur vom Hörensagen kennt oder neuerdings aus dem Internet zu kennen glaubt.

Welche Macht haben Sie eigentlich mit Ihren vielen Daten und Statistiken?
Wir wollen nicht politisch Einfluss nehmen, aber wir beeinflussen Debatten unvermeidlich mit der Auswahl unserer Daten und Analysen. In den 90er Jahren haben wir die Diskussion um geringfügige Beschäftigungsverhältnisse mitgeprägt, weil wir Minijobs besser erfasst haben als die amtliche Statistik. Und mit Sicherheit prägen wir auch die Diskussion um Einkommensverteilung. Wobei dieselben Daten selbst innerhalb des DIW und erst recht von Verbänden oder Parteien unterschiedlich interpretiert werden.

Bräuchten wir in Deutschland – auch mit Hinblick auf Fake News – einen besseren Statistikunterricht?
Es bräuchte nicht unbedingt ein eigenes Statistikfach, aber Statistik im Mathe- oder Gesellschaftsunterricht zu intensivieren, wäre gut. Die jungen Menschen müssen verstehen, wie Analysen aufgebaut sind, und was der Unterschied zwischen Prozent und Prozentpunkten ist.

Eine Statistik, über die sich viele Menschen aufregen, ist die zu den Arbeitslosenzahlen. Sie sei absichtlich zu kompliziert und würde die Realität beschönigen, heißt es.
Wirklich? Ich wüsste nicht, wie man es einfacher machen kann. Wenn Mädchen und Jungen aber in der Schule schon lernen würden, wie Zahlen zustande kommen und wie man sie liest, kann man die Welt auch ruhig komplexer darstellen.

"Der Anteil der Privatschüler steigt"

Komplex ist auch die Integration der Flüchtlinge, die Sie als unzureichend kritisiert haben. Was sollte da verbessert werden?
Wir sollten bereit sein, die, die gekommen sind und aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht wieder gehen, von der ersten Stunde an, in unsere Gesellschaft zu integrieren. Wobei ich den Eindruck habe, dass diese Aufgabe deutlich beherzter angegangen wird als in den Jahrzehnten zuvor.

Sie warnen, wenn sich die Integration nicht verbessert, könnte sich unsere Gesellschaft gewaltig verändern. Was könnte im schlimmsten Fall passieren?

Im schlimmsten Falle würden wir Zustände bekommen wie in Frankreich oder den USA, wo es sehr große Bevölkerungsgruppen gibt, die kaum Chancen, kaum Perspektiven in ihrem Leben haben. Und der Anteil von Schülerinnen und Schülern, die auf Privatschulen gehen, ist in den letzten Jahren in Deutschland explodiert. Das ist ein sehr, sehr ernstes Zeichen für eine Segregation innerhalb der Gesellschaft.

Wie heikel finden Sie es, dass politisches Asyl und Wirtschaftsmigration oft miteinander vermischt werden?
Das ist unvermeidbar. Viele kommen nicht auf Grund einer direkten Bedrohung, sondern aus allgemeiner Angst und gleichzeitig mit der Hoffnung, hier ein besseres Leben führen zu können. Diese Verbindung macht die Diskussion aber schwierig – und zu glauben, man könne diese Diskussion durch ein Einwanderungsgesetz beenden, ist naiv. Trotzdem ist ein Einwanderungsgesetz sinnvoll, das es erlaubt, gezielt qualifizierte Menschen nach Deutschland zu holen.

Das SOEP zeigt, dass vor allem die Menschen Angst vor Zuwanderung haben, die verbittert sind.
Das stimmt.

Was kann man gegen Verbitterung tun?
Das ist nicht leicht. Das Einfachste ist wiederum, die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten, und den Menschen damit Zukunftsängste zu nehmen. Hilfreich ist auch, wenn jene, denen es nicht so gut geht, das Gefühl haben, dass es ihren Kindern besser gehen wird. Es gibt aber kein Patentrezept, denn alles das ist nicht per Knopfdruck änderbar.

Sie waren auch an dem Regierungsprojekt „Gut leben in Deutschland“ beteiligt. Was macht ein gutes Leben aus?
An erster Stelle steht die Gesundheit, dann die Familie, Freunde, dann Frieden – was mich verblüfft hat – und dann erst erwerbstätig zu sein und gut zu verdienen.

Was sollten sich die Menschen demnach für das nächste Jahr vornehmen?
Anderen helfen und ein soziales Leben führen.

"An Feiertagen haben alle Zeit"

Es wird gerade diskutiert, die Arbeitszeit zu verkürzen und mehr Freiräume für das Privatleben, für das Ehrenamt, zu schaffen. Nachdem was Sie sagen, scheint das umso sinnvoller zu sein.
Ja, definitiv. Wenn das gelingen würde, wäre das hilfreich. Dazu habe ich einen konkreten Vorschlag: Von den sechs Wochen Jahresurlaub, die der Durchschnittsarbeitnehmer hat, eine Woche abzweigen und in sechs neue Feiertage umwandeln. Wenn man Urlaub hat, müssen andere oft arbeiten. An Feiertagen, die für alle gelten, haben aber alle Zeit, Freunde und Familienmitglieder zu sehen.

Wäre das das Erste, was die nächste Regierung angehen sollte?
Das müssten die Tarifparteien angehen. Für die Regierung habe ich drei andere Wünsche. Der erste wird Sie wahrscheinlich überraschen. Im Rahmen der sozialen Sicherung sollte die Politik ernsthaft darüber nachdenken, eine Versicherungspflicht gegen Elementarschäden an Häusern und Grundstücken einzuführen. Viele Menschen – und zwar nicht nur Wohlhabende – sind nach Stürmen und Starkregen von Schäden betroffen und haben Probleme, für die Reparaturen aufzukommen.

Was sind Ihre zwei anderen Wünsche?
Die betreffen die Alterssicherung: Es sollte eine ordentliche Mindestsicherung eingeführt werden. Und die Menschen sollten einen besseren Überblick darüber bekommen, was sie im Alter voraussichtlich an Leistungen bekommen. Das würde zu mehr Vorsorge führen und künftig etliche besser vor Altersarmut schützen. Und jene, die schon früher erwerbsgemindert aus dem Arbeitsleben scheiden, sollten eine bessere Rente bekommen. Damit das aber möglichst selten notwendig ist, sollte mehr für Prävention und Reha getan werden, wodurch es möglich wird, freiwillig länger zu arbeiten und so eine bessere Rente zu bekommen.

Gert G. Wagner (64) ist noch bis Jahresende Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Er gehört dem Vorstand des Instituts seit 2011 an. Der Ökonom und Sozialwissenschaftler leitete am DIW von 1989 bis 2011 das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) und entwickelte dieses zur größten und am längsten laufenden Langzeitstudie zur sozialen und wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Zum Jahreswechsel verabschiedet sich Wagner aus dem Vorstand des DIW, bleibt dem SOEP aber als Fellower verbunden. Seinen Forschungsschwerpunkt verlegt Wagner dann jedoch in das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, das ebenfalls in Berlin ist.

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