VW-Chefstratege im Interview: „Wir haben nicht mehr viel Zeit“
Michael Jost leitet die Strategie der Marke VW. Im Tagesspiegel-Interview spricht er über die Schmerzen der Dieselkrise, Elektroautos und den Abschied vom Verbrennungsmotor.
Michael Jost, Jahrgang 1961, leitet seit Ende 2015 die Strategie von VW. Der gebürtige Westfale steuert und koordiniert die Neuausrichtung der Kernmarke des Zwölf- Marken-Konzerns, vor allem bei Zukunftsthemen wie der Elektromobilität. Nach dem Ingenieur-Studium an der Fachhochschule Hagen ging er zunächst in die Forschung und Entwicklung von BMW, war danach Strategieberater der Automobilindustrie und startete 2010 seine Laufbahn bei Volkswagen. Als Leiter des Produktmanagements von Skoda gestaltete er von 2010 bis 2015 die Neupositionierung der Marke.
Herr Jost, was ist eine gute Strategie?
Strategie ist das Gegenteil von Archäologie. Bildlich gesprochen: Wir rekonstruieren nicht aus Scherben eine Vase, sondern wir fragen uns, wie die Vase in zehn oder zwanzig Jahren aussehen soll. Ein Plan allein zur Fertigung der Vase reicht aber nicht aus. Sie muss sich auch verkaufen, sonst ist es keine besonders gute Strategie. Meine Aufgabe ist es, einen guten Plan für Volkswagen zu definieren.
Volkswagen hat mit dem Dieselskandal einen riesigen Scherbenhaufen hinterlassen. Müssen Sie nicht erst aufräumen, bevor Sie in die Zukunft schauen?
Meine Rolle im Konzern ist, die Zukunft zu gestalten. Die Vergangenheit ist sehr lehrreich für uns, vielleicht sogar hilfreich. Denn aus Schmerz und Freude entstehen in der Regel die größten Bewegungen. Wir haben natürlich noch Schmerzen. Und die werden auch noch eine ganze Weile anhalten. Aber entwickeln wollen wir etwas aus der Freude heraus. Volkswagen kann aus einem großen Fundus schöpfen. Wir sind global relevant und haben damit natürlich auch eine globale Verantwortung.
Ist der VW-Konzern noch glaubwürdig nach allem, was geschehen ist?
Wir müssen in Vorleistung gehen. Nicht das Erzählte reicht, sondern das Erreichte zählt. Nur so wird man uns glauben, dass wir einen guten Plan haben.
Nehmen es Ihnen die Mitarbeiter ab?
Natürlich haben nicht alle der mehr als 600 000 Beschäftigten Ende 2015, als wir den Zukunftsplan für den Konzern entworfen und präsentiert haben, ,Juhu' gerufen. Wir mussten es allen – Managern wie auch den Kollegen am Produktionsband – erst einmal in Ruhe erklären. Es gab insgesamt enorme Widerstände und Beharrungskräfte. Volkswagen ist ein Supertanker, den man nicht wie ein Schnellboot steuern kann. Aber heute sind wir viel weiter. Heute wird die Strategie von einer breiten Mehrheit im Unternehmen getragen.
Tatsächlich? Als Sie Ende 2018 öffentlich erklärt haben, das Jahr 2026 sei der Anfang vom Ende des Verbrennungsmotors bei VW, wurden Sie zurückgepfiffen.
Ich habe ein Einstiegsszenario für die Elektromobilität formuliert, kein Ausstiegsszenario aus dem Verbrenner. Und ich bin auch nicht zurückgepfiffen worden. Herbert Diess, unser Vorstandsvorsitzender, sagt nicht viel anderes. Der Einstieg in die E-Mobilität hat natürlich auch zur Konsequenz, dass man woanders raus muss, Ressourcen umschichtet. Deshalb hören wir aber nun in sieben oder acht Jahren nicht abrupt auf, Autos mit Benzin- oder Dieselmotor zu bauen. Die Frage ist allerdings, wie lange wir sie noch weiterentwickeln.
Wie lange denn noch?
Der Verbrennungsmotor wird nach und nach auslaufen – das hängt auch davon ab, wie unsere Kunden Elektroautos annehmen. Eins ist aber klar: In Europa, einem unserer wichtigsten Märkte, werden voraussichtlich ab 2040 keine Neuwagen mit Verbrennungsmotor mehr zugelassen – in einzelnen Ländern der EU sogar zum Teil sogar noch deutlich früher.
Ein Verbot ab 2040 würde VW also nicht schrecken?
In Europa, auch in China oder in den USA wird das wohl so kommen. In anderen Teilen der Welt wird sich die Elektromobilität aber nicht so schnell durchsetzen. Wir sind herausgefordert, die Welt dorthin zu führen – wir haben angesichts des Klimawandels keine Wahl. Das ist nicht nur eine Folge von immer härter werdender Regulierung.
Würden Sie nicht anders reden, wenn es das Pariser Klimaabkommen nicht gäbe, wenn die Politik nicht bis 2050 eine klimaneutrale Gesellschaft schaffen wollte?
Es geht um unser Leben auf diesem Planeten. Wir folgen da nicht nur den politischen Vorgaben, auch wenn diese natürlich bindend für uns sind – mit allen Konsequenzen – positiven wie auch negativen, wie dem schwierig zu bewältigenden Strukturwandel. Klar ist: Volkswagen bekennt sich zum Pariser Klimaabkommen. Ohne Wenn und Aber.
Weil Sie auch in Zukunft noch Autos verkaufen wollen.
Natürlich wollen wir Autos verkaufen. Wir werden aber auch Mobilitätsdienste anbieten und in neue Geschäftsmodelle investieren. Volkswagen soll das wertvollste – nicht unbedingt das größte – Mobilitätsunternehmen der Welt werden. Und Elektromobilität soll Spaß machen. Unsere Elektromodelle werden keine Verzichtsautos sein. Das werden Sie Ende des Jahres erleben, wenn wir das erste von rund 50 in unserer ersten weltweiten Elektrifizierungswelle vorstellen. Anders geht es auch gar nicht. Unsere Kunden müssen sagen: Dieses E-Auto sieht cool aus, das will ich haben.
Bislang ist von Begeisterung für Elektroautos aber wenig zu sehen.
Ich bin absolut überzeugt davon, dass sich das schnell ändert. Nicht unbedingt, weil es E-Autos sind, sondern weil es coole Autos sind – mit mehr Platz, die mehr Fahrspaß bieten, die vernetzt und sauber sind. Das wird die Kunden überzeugen.
Auch die Klimabilanz? Die Produktion eines E-Autos und der Batterien, der Strom – all das ist nicht CO2-neutral.
Richtig. 15 bis 17 Tonnen CO2 bringt ein Elektroauto schon mit, bevor es fährt. Unser VW I.D., der 2020 auf den Markt kommt, wird null Tonnen mitbringen. Weil wir – und unsere Zulieferer – in der Produktion Kohlendioxid vermeiden, reduzieren und über den Kauf von CO2-Zertifikaten kompensieren. Das ist ein Anfang und wir wollen es auch bei allen künftigen Modellen so hinbekommen.
Wann entscheidet sich Volkswagen, selbst Batteriezellen zu produzieren?
Wir haben zunächst ein Kompetenzteam mit 300 Experten aufgebaut, die die Technologie verstehen. Wenn sich nun die Chance ergibt, mit Partnern in die Produktion einzusteigen, um einen Teil unseres großen Bedarfs an Batteriezellen selbst zu decken, werden wir das gegebenenfalls machen. Die Rahmenbedingungen müssen stimmen.
Zurück zu den Kunden. Werden sie im Elektro-Einstiegssegment mehr zahlen müssen als für einen vergleichbaren Benziner?
Das ist ein Punkt. Wir erschließen diesen neuen Markt nicht von unten nach oben. Wir kommen, VW-typisch, aus der Mitte heraus. Aber: Ab 2023, spätestens 2024, werden wir auch ein E-Modell in der Größe eines T-Roc für unter 20 000 Euro auf den Markt bringen. Das rechnet sich wegen der niedrigeren Betriebskosten nach rund 50 000 Kilometern – im Vergleich zu einem Verbrenner, für den der Kunde, sagen wir, 14 000 Euro zahlt. In Volkswagen steckt das Wort Volk – das ist ein Auftrag, den wir ernst nehmen.
Das heißt konkret?
Wir haben keinen Elitenplan, sondern einen Plan für die Gesellschaft. Unser Baukastensystem für Elektroautos zum Beispiel – der Modulare Elektrifizierungsbaukasten (MEB) – soll ein Standard nicht nur für den VW-Konzern sein. Ich denke, wir sind hier, was Kosten und Skalierbarkeit angeht, Champions in der Branche. Deshalb wollen wir den MEB öffnen und ihn der gesamten Industrie anbieten. Das ist ein Paradigmenwechsel für uns. Wir sind schon in einigen fortgeschrittenen Gesprächen mit Wettbewerbern, vor allem im Volumensegment. Aber das alles wird noch nicht reichen, um die Klimaschutzziele zu erreichen.
Was fehlt?
Ein gemeinsamer, gesellschaftlicher Plan für die Dekarbonisierung bis 2050. Mobilität ist die Grundlage unserer Gesellschaft. Wir wollen den Individualverkehr erhalten, in Partnerschaft zu anderen Verkehrsträgern. Dafür brauchen wir aber alle – die Industrie, die Politik, die Gesellschaft. Wir haben nicht mehr viel Zeit.
Hat die Automobilindustrie, aus betriebswirtschaftlich nachvollziehbaren Gründen, nicht selbst zu lange auf der Bremse gestanden?
Ich kann das nur aus der VW-Perspektive beantworten. Wir haben auch zu lange gebraucht, um uns auf den Weg zu machen. Die Dieselkrise hat uns dann schlagartig deutlich gemacht, dass wir aus unserem Silodenken raus müssen. ,Weiter so’ war keine Strategie. Wir konnten nicht mehr sagen: Wir waren es nicht. Die Konsequenzen haben wir gezogen. Dazu zählt, dass der Konzern in den nächsten fünf Jahren mehr als 30 Milliarden Euro in die Elektromobilität investiert. Geleitet von der Erkenntnis, dass das CO2-Problem die größte globale Herausforderung ist.
Derweil regt sich der Verkehrsminister darüber auf, dass Experten beim Nachdenken über die Zukunft ein Tempolimit diskutieren. Versagt die Politik an dieser Stelle?
Ich kann die Politiker nur einladen, mit Ihnen unsere Erlebnisse zu teilen. Der VW-Konzern ist ja bekanntlich durch seine Eigentümerstruktur selbst Teil der Politik. Wir sollten diese Diskussionen um irgendwelche Limits, nach dem Motto ,Wer war’s?, sein lassen. Zu einem guten Plan gehört, dass er mehrheitsfähig ist. Volkswagen ist bereit, hier voranzugehen, auch mit eigenen Ressourcen, und für Mehrheiten auf dem Weg Richtung Paris 2050 zu werben.
Das erzählen Sie mal einem VW-Kunden, der einen manipulierten Diesel fährt und auf eine Entschädigung wartet.
Wir müssen uns mit der Vergangenheit beschäftigen und sie weiter abarbeiten. Aber wenn uns die Vergangenheit der Zukunft beraubt, dann haben wir keinen klugen Plan. Und den brauchen wir: In fünf Jahren muss die Transformation gelingen – sonst ist es zu spät.
Das Gespräch führte Henrik Mortsiefer