DIW-Chef Fratzscher über eine Exitstrategie: Wie lange halten wir das durch?
„Zeit ist der essenzielle Faktor“ für die Chancen auf Erholung der Wirtschaft. Die Exit-Strategie muss jetzt klar werden. Ein Beitrag von DIW-Präsident Marcel Fratzscher.
Die Rufe nach einer Ausstiegsstrategie werden lauter, aber Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Forderungen nach einer baldigen Lockerung der Einschränkungen eine deutliche Absage erteilt.
Ein grundlegender Fehler in dieser Diskussion um eine Ausstiegsstrategie ist es, so zu tun, als ob es einen Widerstreit zwischen dem Schutz der Gesundheit und dem Schutz der Wirtschaft gäbe: Eine funktionierende Wirtschaft ist Grundvoraussetzung für ein funktionierendes Gesundheitssystem und gesunde Menschen sind die Basis für eine florierende Wirtschaft.
Um den Schaden für Gesundheit und Wirtschaft zu minimieren, kommt es darauf an, die Schutzstrategien aufeinander abzustimmen und eine Ausstiegsstrategie frühzeitig zu kommunizieren. Nur so können der wirtschaftliche Schaden begrenzt und Menschenleben geschützt werden.
Eine verlässliche Wirtschaftsprognose ist zu diesem Zeitpunkt völlig unmöglich. Was sich zurzeit abzeichnet, ist, dass der wirtschaftliche Schaden der Corona-Ausbreitung wohl den der globalen Finanzkrise in den Jahren 2008 bis 2009 deutlich übertreffen wird.
Damals brach die deutsche Wirtschaftsleistung Ende 2008 und Anfang 2009 um mehr als fünf Prozent ein, erholte sich danach aber recht schnell. Die Arbeitslosenzahl stieg nur geringfügig, auch dank Kurzarbeit und flexibler Arbeitszeitkonten, und die Insolvenzen von Unternehmen waren begrenzt.
Kein V-Szenario
Wir Ökonomen reden von einem „V-Szenario“: Nach dem plötzlichen Absturz kommt genauso schnell und stark die wirtschaftliche Erholung. Dies dürfte in der Coronakrise nun grundlegend anders sein.
Zeit ist dabei der essenzielle Faktor, der für die Gesundheit und für die Wirtschaft jedoch diametral anders funktioniert: Die Einschränkungen des täglichen Lebens sollen die Infektionskurve abflachen und die Ansteckung zeitlich in die Länge ziehen, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten.
Für die Gesundheit gilt also: Je länger der Shutdown anhält, umso besser. Für die Wirtschaft dagegen steigen die Kosten mit jeder Woche des Stillstands exponentiell. Viele kleine mittelständische Unternehmen haben genug Rücklagen, um den Shutdown vielleicht für sechs oder acht Wochen zu überleben.
Danach wird es für viele kritisch, denn nicht nur die Einnahmen fallen weg, sondern viele der Kosten – wie Miete, Kreditzinsen, Versicherung und ein Teil der Arbeitskosten – müssen weiter bedient werden. Ab einem bestimmten Zeitpunkt werden die Unternehmensinsolvenzen und die Arbeitslosenzahlen rapide zunehmen.
Die Bundesregierung wird trotz ihres massiven und frühzeitigen Wirtschaftsprogramms ein solches Szenario nicht verhindern können, sondern lediglich zeitlich verzögern. Viele Unternehmerinnen und Unternehmer werden nicht warten, bis sie zahlungsunfähig sind, um Beschäftigte zu entlassen, sondern frühzeitig handeln.
Dies bedeutet auch, dass die Wirtschaft sich nicht wieder voll erholen kann und das Vorkrisenniveau für viele Jahre nicht erreicht wird. Denn wenn Unternehmen pleitegehen und Menschen ihre Arbeit verlieren, dann werden nicht so schnell wieder neue Unternehmen und neue Jobs ihren Platz einnehmen können.
Wir Ökonomen reden im schlimmsten Fall von einem „L-Szenario“, also einem permanenten Schaden. Für die Wirtschaft ist es also wichtig, einerseits den Shutdown so kurz wie möglich zu halten und andererseits so früh wie möglich die Ausstiegsstrategie zu bestimmen und zu kommunizieren.
Eine geordnete und gelungene Ausstiegsstrategie hängt von zwei Phasen ab. In der jetzigen ersten Phase versucht die Politik, einen wirtschaftlichen Kollaps zu verhindern. Die Bundesregierung hat ein massives Programm von mehr als 700 Milliarden Euro beschlossen, um kleinen Unternehmen und Selbstständigen konkrete Finanzhilfen zu geben, sich an größeren Unternehmen notfalls direkt zu beteiligen und Banken mit Garantien zu ermöglichen, weiterhin Kredite zu vergeben.
Der Staat als letzte Instanz
Hinzu kommen viele Milliarden für Kurzarbeit und andere Maßnahmen. Es ist gut möglich, dass dieses Programm nicht ausreichen wird und der Staat nochmals deutlich mehr Geld nachlegen muss. Dabei sollten die Staatsschulden die letzte unserer Sorgen sein.
Denn in einer solchen Situation kann nur noch der Staat als letzte Instanz die Wirtschaft stützen und Arbeitsplätze sichern. Und auch künftigen Generationen dürfte es wichtiger sein, gute Arbeitsplätze als geringe Staatsschulden zu haben.
Je stärker und überzeugender diese Wirtschaftsprogramme in der ersten Phase sind – also Insolvenzen und große Arbeitsplatzverluste vermieden werden können –, desto besser sind die Chancen, dass die zweite Phase des wirtschaftlichen Neustarts gelingen kann.
Aber auch in dieser zweiten Phase sind weitere Maßnahmen von großer Bedeutung. Zum einen muss verhindert werden, dass eine neue Infektionswelle losgetreten wird und neuerliche Beschränkungen innerhalb weniger Monate folgen. Dies erfordert, dass Risikogruppen geschützt, Tests massiv ausgeweitet und Frühwarnsysteme aufgebaut werden.
Um das Risiko für das Entstehen neuer Infektionsherde zu begrenzen, wird es aber auch nötig sein, den Aufenthaltsort jedes Einzelnen über Handydaten feststellen zu können. Südkorea hat dies beeindruckend vorgemacht. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass dies auch einige unserer Rechte, vor allem beim Datenschutz, temporär beschneiden würde.
Ein massives Konjunkturprogramm müsste auch Teil der zweiten Phase sein, in der der Staat die deutlich schwächere private Nachfrage zumindest teilweise durch staatliche Nachfrage kompensiert. Damit würde der Staat viele Unternehmen und damit Arbeitsplätze retten.
Hoher Investitionsbedarf
Die gute Nachricht ist, dass es mehr als genug Investitionsbedarf in Deutschland gibt. Für Investitionen in Bildung, Innovation, Forschung und Entwicklung, Klimaschutz, digitale und Verkehrsinfrastruktur und viele andere Bereiche besteht in Deutschland großer Nachholbedarf, so dass höhere öffentliche Investitionen eben nicht verpuffen, sondern die deutsche Wirtschaft nachhaltig stärken würden. Auch eine Unterstützung für finanzschwache Kommunen, die durch die Krise besonders stark gebeutelt sind, gehört zu einem solchen Programm dazu.
Eine frühzeitige Kommunikation der Ausstiegsstrategie ist essenziell, um einen noch größeren wirtschaftlichen Schaden zu verhindern. Dies heißt nicht, dass die Bundesregierung sich jetzt schon auf einen Zeitpunkt des Ausstiegs festlegen sollte.
Sie sollte aber kommunizieren, wie ein geordneter Prozess und unterstützende Maßnahmen aussehen werden. Der Faktor Zeit ist genauso essenziell für Wirtschaft und Beschäftigte wie Vertrauen und Sicherheit. Eine überzeugende Ausstiegstrategie – mit einer massiven Ausweitung von Tests und Identifikation von Risiken sowie einem lang angelegten Konjunkturprogramm – würde das Vertrauen stärken und damit die Kosten für Gesundheit und Wirtschaft begrenzen helfen.
Marcel Fratzscher
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