Neuer Rasierer in Berlin vorgestellt: Wie Gillette den Erfindergeist erzwingt
Das Werk in Tempelhof soll Gillettes Labor für neue Produkte sein. Klingt nach einer Erfolgsgeschichte. Doch die Beschäftigten sind beunruhigt.
Wenn es nach der Leitung im US-amerikanischen Boston ginge, gäbe es das Berliner Gillette-Werk in seiner jetzigen Form nicht mehr. Zumindest wäre es deutlich kleiner. Immer wieder ließ das Unternehmen hier in den vergangenen Jahren über hunderte Entlassungen verhandeln. Denn die deutschen Rasierklingenbauer sind teuer. Sonderleistungen halten die Lohnkosten hoch.
Wo Gillette kann, baut die Leitung lieber das günstigere Schwesterwerk in Lodz aus. Mit dem polnischem Personal könnte das Unternehmen bis 2026 mehr als hundert Millionen Euro sparen, rechnete das Management einst vor. Auch als Anfang der Woche in Tempelhof das neue Rasiermodell „SkinGuard Sensitive“ vorgestellt wurde, war ein Gedanke unausweichlich: Die stolzen Reden über Produkttraditionen und bestausgebildete Mitarbeiter sollten ursprünglich wahrscheinlich 400 Kilometer weiter östlich gehalten werden. Lange stand nicht fest, ob in Berlin produziert wird.
Dass es so kam, ist einer Neuausrichtung der Werksleitung und der Belegschaft zu verdanken – mehr Innovation, mehr Digitalisierung. Ersatzteile für die Maschinen werden neuerdings per 3D-Drucker selbst hergestellt. Das spart Kosten, Zeit und Lagerfläche. Anregt hat die neue Technik nicht die Konzernleitung, sondern ein Mitarbeiter.
Durch Zusammenarbeit mit Start-ups aus der Region sollen immer mehr Prozesse automatisiert werden. Auch, um den technischen Vorsprung vor Polen aufrechtzuerhalten. Die Maschinen laufen hier noch schneller als in den USA. In drei Schichten produzieren die Berliner mehr als eine Million Klingen pro Tag.
Made in Berlin
Man kann das als den Siegeszug deutscher Wertarbeit gegen billigere Löhne im Ausland lesen. Als Beschäftigte, die für ihr Unternehmen Verantwortung übernehmen und selbst durch neue Ideen den Kurs mitbestimmen wollen. Für Werksleiter Stefan Brünner stärkt der Schritt in Richtung Industrie 4.0 die eigene Marktposition. „Gillette setzt auf Hightech in und aus Berlin“, sagte er am Montag.
Auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, der die Präsentation begleitete, sieht in dem Werk ein Beispiel für zukunftsfähige Industrie. Die Konkurrenz sei hart. Umso mehr freue er sich, dass Berlin als „Gründer- und Wissenschaftsstandort offensichtlich so attraktiv ist, dass wir gegen die Konkurrenz bestehen.“ In einem neuen Spot wirbt Gillette bereits mit dem Slogan „Made in Berlin.“
Für die Beschäftigten ist die Situation komplizierter. Für sie geht es längst nicht mehr nur um ein bisschen 3D-Druck. Durch die wiederholt angedrohten Entlassungen sei das Werk in den vergangenen Jahren von „einem Tod auf Raten“ geprägt worden, sagt Birgit Dietze. Die Chefin der Berliner IG Metall hat das neue Rasierer-Modell im September nach Deutschland geholt.
Im Rahmen von Tarifverhandlungen sicherte der Mutterkonzern Procter & Gamble (P & G) Investitionen von rund 40 Millionen Euro zu. Und noch wichtiger: Der „SkindGuard Sensitive“ wird in Berlin hergestellt und dem Werk so auch eine Perspektive gegeben. Werksleiter Brünner spricht von einem „konstruktiv verhandelten Zukunftstarifvertrag“.
Dafür wurde die Produktion des „Mach3“-Rasierers nach Polen verlagert. Der konnte in Berlin nicht mehr profitabel hergestellt werden. Seit 1998 produziert Gillette das Modell, das immer noch zu den Kernmarken des Unternehmens gehört. Der neue Rasierer hingegen ist ein "Premiummodell", wie es Produktdesigner Benjamin Wilson nennt.
Neu ist ein hautglättender Plastiksteg zwischen den Klingen, der natürlich „nicht einfach ein Plastiksteg“ ist, wie Wilson betont. Ein Team von Dutzenden Menschen habe das Bauteil gemeinsam entwickelt. Die Größe sei getestet worden, die Härte, das Material. Dabei herausgekommen sei „kein Produkt für Jedermann“, sondern für Kunden mit besonders empfindlicher Haut.
Wenn Innovationen scheitern
„In Berlin zähmen sie die wilden Pferde“ beschreibt Dietze das Selbstverständnis der Beschäftigten. Die Pferde, das seien die Maschinen und Produktionsabläufe, die noch erprobt werden müssten. „Und sobald man die Pferde reiten kann, werden sie samt Stall ins osteuropäische Ausland weggegeben“, meint die Gewerkschafterin. Arbeitsplätze könnten hierzulande nur noch durch Innovation gesichert werden.
Es gebe in den Belegschaften durchaus die Sehnsucht nach gewohnten Verhältnissen. „Man hat was gekonnt und man wurde dafür wertgeschätzt", sagte Dietze. "Heute ist es so: Man kann etwas und dann wird es einem weggenommen.“ Gleichzeitig sei der tatsächliche Einfluss des Berliner Werks auf technische Innovationen begrenzt. Sowohl die Firmenzentrale als auch die Produktentwicklung liegen nicht in Berlin. Und das trage nicht hier unbedingt zur Motivation Mitarbeiter bei.
800 Mitarbeiter in Tempelhof
In Berlin werden die Innovationen umgesetzt - doch was passiert, wenn ein Experiment scheitert? Neue Produkte sind eher eine Seltenheit. Zwar entwickelt Gillette gelegentlich spezielle Modelle wie Rasierer für hilfsbedürftige Menschen. Die eignen sich dann etwa besonders dafür, dass Betreuer die Körperpflege übernehmen. Die Hauptmarken sind mit ihren Entwicklungszyklen jedoch eher mit der Autoindustrie vergleichbar, die alle sechs oder sieben Jahre neue Modelle auf den Markt bringt.
Gillette begleitet den neuen Rasierer mit einem umfangreichen Werbeetat. Doch wenn das Modell nicht den erhofften Anklang findet, könnte es auch für die Tempelhofer wieder eng werden. Das kann auch an so banalen Gründen wie einer Rückkehr des Dreitagebarts liegen, wie P & G Sprecherin Gabriele Hässig erklärt. Deshalb könne auch nicht vorgesagt werden, ob nicht auch zukünftig wieder an den 800 Mitarbeitern gekürzt wird. Der vom Werk zugesicherte Stopp bei den betriebsbedingten Kündigungen gilt nur bis 2022.
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