Mehr als 650 Corona-Infizierte bei Tönnies: Wie Europas größte Fleischfabrik zum Hotspot wurde
Mitarbeiter stehen unter Quarantäne, die Produktion ruht: Nun ist auch Tönnies von einem Corona-Ausbruch betroffen. Beobachter wundert das nicht.
Womöglich ist es die Kälte im Schlachtbetrieb, die den Virusausbruch begünstigt hat. Das vermutet zumindest Gereon Schulze Althoff, der bei Tönnies das Qualitätsmanagement leitet. Bei dem ostwestfälischen Schlachtbetrieb haben sich etliche Mitarbeiter mit dem Coronavirus angesteckt. Von 983 Tests, bei denen die Ergebnisse am Mittwochabend vorlagen, waren 657 positiv.
Der Betrieb ist deshalb vorläufig stillgelegt worden. Insgesamt arbeiten an dem betroffenen Standort in Rheda-Wiedenbrück 6000 Mitarbeiter. Auch diejenigen, bei denen der Test noch aussteht, hat der Kreis vorläufig unter Quarantäne gestellt.
„Wir können uns für diese Situation nur entschuldigen“, sagte Tönnies-Sprecher André Vielstädte. Das Unternehmen hätte in Abstimmung mit den Behörden alles getan, um das Virus aus dem Betrieb herauszuhalten. Tatsächlich schien mit Tönnies ausgerechnet Deutschlands größter Schlachtbetrieb zunächst von der Coronawelle verschont zu bleiben.
Während sich in anderen Betrieben in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein reihenweise Mitarbeiter mit dem Virus infizierten, meldete Tönnies kaum Fälle. Nun aber ist der Betrieb massiv betroffen.
Qualitätsmanager Schulze Althoff erklärt sich das unter anderem mit der Grenzöffnung. Viele der Mitarbeiter in Schlachthöfen kommen aus Osteuropa. Waren sie anfangs aufgrund der geschlossenen Grenzen gezwungen, in Deutschland zu bleiben, haben zuletzt viele wieder ihre Familien in der Heimat besucht.
Laut Schulze Althoff sind zwar alle Urlaubsrückkehrer getestet worden – allerdings nur, wenn sie mehr als 96 Stunden weg waren. Wer hingegen lediglich das Wochenende für einen Besuch bei der Familie genutzt hat, bei dem fiel der Test aus. „Vielleicht war das der Fehler“, sagt Schulze Althoff.
Das Unternehmen sagt, es habe sich an die Hygienevorschriften gehalten
Dazu kommt, dass der Virusausbruch spät festgestellt worden ist. Erst als niedergelassene Ärzte Alarm schlugen, weil sich bei ihnen Patienten mit Symptomen meldeten, kam es zum erneuten Massentest im Unternehmen.
Sprecher Vielstädte sagt: „Wir haben alle Maßnahmen, die wir in Abstimmung mit den Behörden beschlossen haben, auch vollzogen.“ Bei den Mitarbeitern sei zum Beispiel regelmäßig die Körpertemperatur gemessen worden, auch seien Masken Pflicht.
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Tierschützer wundert der erneute Virusausbruch in einem deutschen Schlachtbetrieb nicht. „Die Hauptschuld am jüngsten Desaster trägt die Bundesregierung“, sagt Friedrich Mülln von der „Soko Tierschutz“, einem Verein, der seit Jahren Missstände in deutschen Schlachthöfen dokumentiert.
Während die große Koalition in vielen Gesellschaftsbereichen drastische Maßnahmen ergriffen habe, um die Pandemie zu stoppen, habe sie ausgerechnet die Fleischindustrie „praktisch nicht angetastet – und dies, obwohl der Handlungsbedarf hier so offensichtlich ist“.
Mülln glaubt deshalb, dass der Ausbruch bei Tönnies auch nicht der letzte bleibt. „An den Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen hat sich, abgesehen von ein paar jetzt aufgestellten Warnschildern, nichts geändert“, sagt er. Bei Undercover-Recherchen hat sein Verein neben systematischer Tierquälerei auch erschreckende Zustände in Sammelunterkünften dokumentiert: Arbeiter schliefen in überfüllten Sälen mit Stockbetten, dutzende Mitarbeiter teilten sich eine Kochplatte und eine Toilette.
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Im Betrieb mussten Arbeiter trotz Schnittverletzungen an den Händen ihre Schicht fortsetzen. Betroffene berichteten von Dumpinglöhnen und gesteigertem Alkoholkonsum, um die eigene Lage ertragen zu können.
Für Armin Wiese von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) ist der Ausbruch – auch in dieser Dimension – ebenfalls keine Überraschung. „Allen war klar, dass dieses Risiko bestand, selbstverständlich auch dem Unternehmen.“ Worauf es jetzt ankomme, sei die Verbesserung des Arbeitsschutzes, etwa bessere Arbeitskleidung, die Einhaltung von Mindestabständen. Außerdem müsse das „System Werkvertrag“ endlich aus der Fleischindustrie verbannt werden.
Die Politik will Werkverträge abschaffen - aber erst 2021
Schlachtbetriebe arbeiten häufig mit Subunternehmern zusammen. Mit ihnen schließen sie Werkverträge, vereinbaren zum Beispiel eine gewisse Anzahl von Tieren, die für einen festgelegten Preis geschlachtet werden müssen. Die Verantwortung für das Personal hat dabei der Subunternehmer, nicht der Schlachtbetrieb. Nach den großen Corona-Ausbrüchen im Mai hatte SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil offen von „Ausbeutung“ gesprochen und angekündigt: „Wir werden aufräumen mit diesen Verhältnissen.“
Sein nordrhein-westfälischer Amtskollege Karl-Josef Laumann von der CDU erklärte, die Zustände in der Branche seien „weder mit einem christlichen Menschenbild noch mit der sozialen Marktwirtschaft vereinbar“. Tatsächlich beschloss das Kabinett daraufhin Eckpunkte eines Arbeitsschutzprogramms, wonach ab dem nächsten Jahreswechsel nur noch Mitarbeiter des eigenen Betriebes Tiere schlachten und das Fleisch verarbeiten dürfen. Werkverträge wären dann nicht mehr möglich.
Noch soll aber Tönnies zum Beispiel rund die Hälfte seiner Mitarbeiter im Werkvertrag beschäftigen. Das Unternehmen selbst sieht derweil keinen Zusammenhang zwischen der Art der Beschäftigung und dem Virusausbruch. Schließlich hätten sich sowohl die eigenen wie die externen Angestellten angesteckt, heißt es.
Die weit verbreitete Kritik, wonach sich ausländische Mitarbeiter leicht gegenseitig ansteckten, weil sie sich in Gemeinschaftsunterkünften ein Zimmer oder eine Wohnung teilen müssten, hält Sprecher Vielstädte ebenfalls für überzogen: „Angesichts der Dimension mit über 400 Positiven kann die Ausbreitung nicht allein an den Unterkünften liegen.“
Ein anderer Grund könne die niedrige Temperatur im Schlachthof sein. „Es wächst die Erkenntnis, dass sich das Virus gerade in gekühlten Räumen von einer Person auf die andere überträgt“, sagt Qualitätsmanager Schulze Althoff.
Wie lange der Betrieb nun geschlossen bleibt, ließ der Kreis Gütersloh am Mittwoch zunächst offen. Folgen hat das sowohl für Landwirte wie für Verbraucher. Bauern etwa sind darauf angewiesen, dass die Schlachtbetriebe die Tiere zu einem bestimmten Zeitpunkt abnehmen: Sie dürfen nicht zu leicht und nicht zu schwer sein.
Und aufgrund der Marktmacht von Tönnies könnten sich auch die Regale im Supermarkt lichten. „Rund 20 Prozent der Produkte könnten auf dem deutschen Markt fehlen“, meint Sven Georg Adenauer, Landrat im Kreis Gütersloh.
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