Die Klopapier-Krise: Wie die DM in die Läden kam
Milch ist ausverkauft, Klopapier auch, vor der Währungsunion sind die Läden leer gefegt. Am 1. Juli 1990 sind die Regale voll, mit West-Waren.
Kurz vor Ultimo sieht es in einigen Läden Ost-Berlins aus, als hätte Erich Honecker späte Rache geübt. Leergefegt sind die Regale, selbst Toilettenpapier – diese typisch rau-graue Einheitssorte, die auf allen WCs zwischen Rügen und Erzgebirge ihre zuverlässige Rolle spielte – ist in Ost-Berlin ausverkauft. In Marzahn gibt es kurz vor der Währungsunion keine Milch, in Prenzlauer Berg kein Brot. Die Bevölkerung reagiert gereizt. Reihenweise beschweren sich die Menschen – so wie sie es stets gewohnt waren – ganz oben. Und ganz oben ist Sybille Reider, Ministerin für Handel und Tourismus, in einem gräulichen Plattenbau nahe dem Alexanderplatz, und muss auf die Klagen reagieren. Im Wendeherbst 1989 ist die Juristin zur Politikerin geworden und gehört seit den freien Wahlen zur Regierung von Lothar de Maizière. „Eine verrückte Zeit“, sagt sie 25 Jahre später, und eigentlich möchte sie gar nicht mehr daran erinnert werden. „Ich habe abgeschlossen damit.“ Damals ist sie gerade 40 und – noch – SPD-Mitglied.
Alles wird gekauft
Aber dann erinnert sie sich doch, auch an die Sache mit dem Toilettenpapier „Die Leute kauften alles auf, was man aufheben konnte und wofür ihnen die DM zu schade war“, erinnert sich Sybille Reider, die heute wie damals in der Nähe von Weißenfels in Sachsen-Anhalt lebt. Das gilt im verrückten Juni 1990 auch für Mehl, Salz, Öl und Kartoffeln. Aber nicht nur die Hamsterer reißen Lücken ins Angebot. Reihenweise bestellen die Läden einfach nichts mehr bei DDR-Herstellern. Sie haben Angst, die Produkte nach der Währungsunion nicht mehr loszuwerden. Denn nicht nur das Geld aus dem Westen hat die bessere Qualität. Das irrationale Verhalten der Kunden, die sich einerseits über Versorgungslücken beklagen, aber andererseits auch keine heimischen Waren mehr kaufen wollen, gibt dem Ganzen eine besondere Dynamik.
Den Bauern steht das Wasser bis zum Hals
So entsteht eine paradoxe Situation. Viele Betriebe bleiben auf ihren Erzeugnissen sitzen, während es in den Geschäften nichts zu kaufen gibt. Derweil wächst der Druck auf die DDR-Regierung. Auf der einen Seite stehen die unterversorgten DDR-Bürger, auf der anderen die Betriebe und Bauern, denen das Wasser bis zum Hals steht, weil ihnen keiner etwas abnimmt. Ständig wird irgendwo gegen irgendwen demonstriert. Die Handelsministerin gründet ein Kontrollgremium, um die Versorgungslücken aufzuspüren und schickt Kontrolleure in die Spur. Die steigen in ihre Dienst-Wartburgs und kurven durch die Hauptstadt der DDR, einmal auch mit dem Tagesspiegel-Reporter auf der Rückbank. Ein erster Kontrollpunkt liegt in Adlershof im Südosten der Stadt: Ein typischer Betonflachbau, gewelltes Dach, wie er hundertfach in der DDR zu finden ist, gebaut als „Kaufhalle“ für das staatliche Handelsunternehmen HO – und die einzige Einkaufsmöglichkeit für 17.000 Anwohner. Die Chefin berichtet, dass eine Lieferung Pralinen nach 15 Minuten weg war – die Hamsterer hätten zugeschlagen – ebenso bei Fleischkonserven. Und natürlich beim Toilettenpapier. Dafür gibt's ausreichend Brot, sogar in elf Sorten. Aber die Nudelfrage! 16 Packungen Makkaroni liegen noch da. „Die müssen übers Wochenende reichen“, sagt die Chefin verärgert. Dabei sei es doch erst Freitag. Früher, ja, da habe sie sich wenigstens noch beim Rat des Stadtbezirks beschweren können. Die Kontrolleure aus dem Handelsministerium notieren sich die Probleme, vermerken fehlende Ware in einer Liste und brechen zur nächsten Station auf. Derweil muss die Ministerin in ihrem Dienstsitz am Alexanderplatz viel telefonieren. Mit dem Wirtschaftsminister und dem Finanzminister. „Wir mussten doch die Betriebe am Laufen halten!“ sagt Sybille Reider 25 Jahre später. „Wir haben rotiert, damit die Erzeugnisse direkt vom Hersteller in Läden kamen.“ In Werder reift so langsam das Obst, für das ganz Ost-Berlin und die DDR gern Schlange stand. Doch jetzt ist mit keinem mehr gut Kirschen essen.
Das KaDeWe hilft
Schließlich springt zumindest das KaDeWe ein, ordert in den Tagen rund um die Währungsunion Werder-Obst für West-Berlin. Zwei Tage läuft es, dann gibt der Lastwagen der Bauern seinen Geist auf. Die Planwirtschaft in ihren letzten Zuckungen zeigte noch einmal, wozu sie fähig ist. „Es gab einfach keine Transportkapazitäten“, stöhnt die damalige Ministerin, als sie sich jetzt noch einmal daran erinnert.
Am anderen Ende der Stadt laufen die letzten Vorbereitungen auf die neue Zeit. In der Weißenseer Klement-Gottwald-Allee, wie die Berliner Allee damals noch hieß, langweilt sich so manche Verkäuferin. Pumps und Sandalen kauft beispielsweise niemand mehr, bald kommt ja die neue Ware, aus Italien und sonst wo. Nur nicht aus der DDR. Im Supermarkt ein paar Schritte die Allee hinauf, in der die Fassaden nur bis zum ersten Stock hinauf ganz passabel sind (soweit hinauf reichten die Blicke aus den schwarzen Limousinen, die bis zum Wendeherbst zur SED-Politbürosiedlung bei Wandlitz rauschten), schrubben Lehrlinge das stumpfe Metall der Eingangstüren blitzblank.
"Nie gelernt, mit der Marktwirtschaft umzugehen"
Drinnen in dem Geschäft, das natürlich noch „Kaufhalle“ heißt, glänzt dafür noch nichts. Ein paar Schritte weiter gibt's schon den Ausblick auf die neue Zeit. In einem Spielzeuggeschäft stehen Mini-Loks aus westdeutscher und österreichischer Produktion. „Die können Sie ab 1. Juli kaufen“, frohlockt der Verkäufer. Der Händler wirkt, als habe er – frei nach Karl Marx – nichts zu verlieren als seine Ketten. Gemischte Gefühle zeigt eine Mitarbeiterin im „Kaufhaus Weißensee“, dem größten Geschäft in der Allee: „Wir haben es ja nie gelernt, mit der Marktwirtschaft umzugehen“, seufzt sie. Wie ahnungsvoll das ist, wird sie erfahren, als ein westdeutscher Konzern das Kaufhaus nach der Währungsunion übernehmen und später schließen wird. Wie die Marktwirtschaft funktioniert, ist dann am 2. Juli zu sehen. Am Tag nach der Währungsunion, einem Montag, sind die Läden auf einen Schlag gefüllt. Schuhe, Schlüpfer, Schokolade – alles da, alles aus dem Westen. „Das glaubt heute keiner mehr, wie schwierig das war – allein schon die ganze Logistik“, sagt die Handelsministerin heute. Ihre Regierung gibt die Marschroute vor: „Wenn die West-Mark da ist, dann muss die Bevölkerung auch was zu kaufen haben“. Doch die hat schon wieder was zu meckern: Ihr sind die Preise zu hoch, Ost-Berliner Händler stehen unter dem Verdacht der Preistreiberei.
Die Frau, der es mitzuverdanken ist, dass die Aktion ziemlich reibungslos über die Bühne geht, tritt bald nach dem Ende der DDR aus der SPD aus. Nicht aus Ärger über die Einheit, sondern aus Frust über den Weg dorthin. „Man hätte noch viel mehr retten können“, sagt sie mit Blick auf die Arbeit der Treuhandanstalt, die die Hand auf alle Staatsbetrieb hatte. Unrettbar waren im verrückten Sommer 1990 allerdings Waren im Wert von neun Milliarden DDR-Mark. Sie sind unter D-Mark-Bedingungen schlichtweg unverkäuflich, wie sich die Ex-Ministerin dann auch noch erinnert. Darunter gigantische Bestände an – Wurzelbürsten.