Tiere in Deutschland: Wie der Wolf auf die Abschussliste gerät
Die Übergriffe auf Nutztiere nehmen zu. Immer mehr Bauern, Jäger und Politiker fordern den Abschuss der Wölfe. Dabei gibt es Alternativen zum Töten.
Die Nuthe-Nieplitz-Region ist ein Naturparadies. Nur 20 Kilometer vom südlichen Berlin entfernt liegen Seen und Wälder, die Fischottern, Störchen und Rehen Nahrung und Schutz geben. Zwischen den Flüssen Nieplitz im Westen und Nuthe im Osten erstreckt sich ein Naturschutzgebiet, das fast doppelt so groß ist wie die Insel Usedom.
Auch die Mutterkühe von Bauer Jürgen Frenzel leben hier. Die großen braun-weißen Öko-Rinder stehen jahraus, jahrein auf der Weide in der Nähe von Dobbrikow, mitten im Naturschutzgebiet, direkt am Wald. Dort bekommen sie ihre Kälbchen, die Frenzel später verkauft. Doch viele der Jungtiere überleben nicht. Frenzel sagt: „Die holt der Wolf.“
2016 ging es los. Vier Kälber habe er verloren, im Jahr drauf waren es schon 44. Es sind grausige Bilder, die sich in seinem Kopf festgesetzt haben. Kälbchen, von denen nur ein Stück Schulter zurückbleibt. Oder der Verlust von Mutter und Kalb im vergangenen Frühling. Als Frenzel auf die Weide kommt, steht eine seiner Mutterkühe neben ihrem Jungen, von dem nur noch der Kopf und der aufgerissene Torso zu sehen sind. Drei Wochen später ist auch die Mutter tot. „Sie hat versucht, ihr Junges zu beschützen, und ist von den Wölfen ins Ohr gebissen worden“, sagt Frenzel. Trotz Antibiotika habe sie die Infektion nicht überlebt.
Frenzel hätte sich das Ende seines Berufslebens anders gewünscht. Der Ökolandwirt ist 66 Jahre alt, er möchte seinen Betrieb, das Landgut Hennickendorf, an Jüngere abgeben. Die Sorgenfalten in seinem schmalen Gesicht zeugen davon, dass die Jahre in der Landwirtschaft nicht immer leicht waren. Mit sieben lernt er beim Großvater das Melken, 1972 wird er beim DDR-Lehrlingswettbewerb Meister in dieser Disziplin. Er erlebt, wie der Familienhof zwangsweise von der LPG geschluckt wird. Nach der Wende baut er mit seinem Partner einen Agrarbetrieb auf Teilen der dort früher ansässigen LPG auf. Nachforderungen der einstigen Genossenschaftsmitglieder verdoppeln den ursprünglichen Kaufpreis.
Und nun, sagt Frenzel, droht ihn der Wolf zu ruinieren. Die Region Nuthe-Nieplitz ist Wolfsgebiet. Auf dem Truppenübungsplatz bei Jüterbog haben sich die streng geschützten Tiere in Ruhe ansiedeln und verbreiten können. Potsdam-Mittelmark, Teltow-Fläming oder die Lausitz sind Gegenden mit großen Wolfsvorkommen. 26 Rudel und zwölf Paare weist der letzte Wolfsmonitoringbericht für Brandenburg aus, nur vier davon leben im Norden. Im Süden Berlins gibt es dagegen kaum einen Flecken, in dem nicht bereits ein Wolfsrudel oder ein Wolfspaar ansässig ist.
Das führt zu Problemen. Denn Wölfe und Menschen kommen sich immer näher. Und sie teilen kulinarische Vorlieben. Zwar fressen Wölfe am liebsten Rehe und Rothirsche. Aber auch Schafe, Ziegen oder Kälbchen verschmähen sie nicht. 247 Nutztiere waren es 2016, 394 ein Jahr drauf, 401 im Jahr 2018. In all diesen Fällen war „der Wolf als Täter nicht auszuschließen“, wie es im Amtsdeutsch heißt. Das ist die Voraussetzung dafür, dass die Tierhalter Ersatz vom Staat bekommen. 100 Prozent zahlt das Land Brandenburg für Nutztiere, die dem Wolf zum Opfer gefallen sind.
So auch bei Bauer Frenzel. Theoretisch. Denn in vielen Fällen hat der Rissgutachter, der den tödlichen Wolfsbiss bestätigen muss, das bei seinen Tieren nicht tun können. Etwa weil unklar war, ob ein Kälbchen schon tot geboren wurde oder Wölfe das minutenkurze Leben ausgelöscht haben. Oder weil einfach nicht mehr genug übrig ist, um ein Urteil über den Täter zu fällen, sich inzwischen auch Raben oder Füchse bedient haben.
Rissgutachter – oft sind es Tierärzte oder Jäger – untersuchen die Opfer. Passt der Zahnabdruck zum Wolf? Ist das Tier am typischen Kehlbiss des Raubtiers gestorben? Manchmal sind die Spuren eindeutig, manchmal ist eine DNS-Analyse nötig. Sind die Zweifel zu groß, gibt es keinen finanziellen Ersatz. Aber selbst wenn, platzt die Kalkulation. Für ein neugeborenes Kälbchen bekommt Frenzel 300 Euro ersetzt, doch ein halbes Jahr später hätte er das halbwüchsige Tier für 700 bis 900 Euro verkaufen können. Auf der Differenz bleibt er sitzen. „Ich bin finanziell am Ende“, sagt er.
Für Bauernfunktionäre, Jäger und Politiker sind Geschichten wie die von Bauer Frenzel Argumente dafür, dass es dem Wolf nun an den Kragen gehen soll. „In der Weidewirtschaft haben Wölfe nichts zu suchen“, meint Jens Schreinicke, Wolfsbeauftragter des Landesbauernverbands Brandenburg. Auf Truppenübungsplätzen oder in großen Waldgebieten könne man die Raubtiere leben lassen, nicht aber in der Nähe von Weiden. Um Schafe, Ziegen oder Kälbchen zu schützen, müsste man in der Nachbarschaft der Nutztiere „alle Rudel abschießen“.
In der Politik fallen die Sorgen der Landwirte auf zunehmend fruchtbaren Boden. Die Wolfsländer Brandenburg, Niedersachsen und Sachsen machen sich per Bundesratsinitiative für „lokal beziehungsweise regional bestandsregulierende Maßnahmen“, also verstärkte Abschüsse stark, um die Tierhalter zu unterstützen. Bundesagrarministerin Julia Klöckner setzt sich für eine „gemäßigte Bestandsregulierung ein, die es rechtssicher ermöglicht, einzelne Wölfe eines Rudels zu entnehmen“. Zwar sei die Rückkehr des Wolfs nach Deutschland zu begrüßen, erklärt die CDU-Politikerin, doch die Population verdoppele sich nun mal alle drei bis vier Jahre, und die Zahl der Wolfsübergriffe auf Nutztiere nehme zu. „Den Schaden hat der Landwirt, auch seine Belange sind zu schützen“, meint Klöckner.
Noch ist der Wolf streng geschützt
Noch ist Canis Lupus streng geschützt. Ein Wolf darf in Deutschland nur getötet werden, wenn er wiederholt Nutztiere reißt, obwohl der Bauer seine Herde gut geschützt hat. So wie GW924m – kurz für Germany, Wolf, Labornummer 924, männlich – aus Schleswig-Holstein, dem bald sein letztes Stündchen schlagen könnte. Der zweijährige Rüde ist aus Dänemark eingewandert und frisst gern Schafe. DNS-Analysen haben ihn überführt. Er hat gelernt, dass die Stromschläge der Elektrozäune zwar zwirbeln, ihn aber nicht verletzen. Seine Liebe zur leichten Beute hat dazu geführt, dass der Problemwolf jetzt amtlich zum Abschuss freigegeben ist. Genauso wie der Leitrüde des Rodewalder Wolfsrudels im niedersächsischen Nienburg, der sich an drei Ponys, einem Alpaka und zehn Rindern vergriffen haben soll.
Auch Wölfe, die Menschen zu nahe kommen, spielen mit ihrem Leben. So wie „Kurti“. Man vermutet, dass ihm Soldaten auf dem Truppenübungsplatz in Munster Essen zugesteckt hatten. Der Rüde – an den menschlichen Lieferservice gewöhnt – war so zum Wegelagerer geworden. Nachdem „Kurti“ sich einer Mutter mit Kind genähert und auch noch einen kleinen, angeleinten Hund verletzt hatte, war sein Todesurteil besiegelt. Im April 2016 wurde er erschossen.
Erst kam das Reh, dann kam der Wolf
Im brandenburgischen Trebitz bemerkt Doreen Wolf einen Wolf am helllichten Tag. Zwei Jahre ist es her, da räumt die Kellnerin die Reste eines Schlachtebuffets in dem Hotel „Zur Linde“ auf, in dem sie arbeitet. Beim Besteckpolieren sieht sie zunächst ein Reh durchs Dorf rasen und dann den Wolf. Um das Reh zu retten, stürmen Frau Wolf und ihre Kollegin nach draußen. Mit Schreien und Pfiffen vertreiben sie das Raubtier, können das verletzte Reh aber dennoch nicht retten. „Ich finde Wölfe eigentlich schön“, erzählt Doreen Wolf, „aber es ist schon komisch, wenn sie mitten durchs Dorf laufen.“
Wölfe, die sich an wehrlosen Lämmern oder Zicklein vergreifen und die auch vor der menschlichen Zivilisation nicht haltmachen, rühren an tief verankerte Ängste aus Kindertagen. Sie speisen sich aus den Märchen der Brüder Grimm. Die zeichnen ein Bild vom gierigen Wolf, der sich mit List Zugang verschafft und dann hilflose Geißlein verschlingt. Oder als rücksichtslosen Frauenkiller, der erst die Großmutter und dann auch noch das Rotkäppchen kaltmacht. Der Wolf ist der Unhold, das Böse, die Bestie.
Doch das stimmt nicht. Tatsächlich könnten Menschen vom Sozialverhalten der Wölfe einiges lernen. Wölfe sorgen gut für ihr Rudel. Die Schwachen werden mitversorgt, die älteren Geschwister passen auf die Welpen auf, die Elterntiere sind partnerschaftlich gleichberechtigt. Nur wenn Artgenossen aus fremden Rudeln durchs Revier ziehen, kann das für sie böse enden. Dass dem Wolf dennoch ein Schurkenimage anhaftet, liegt an der Konkurrenz zum Menschen. Die Grimm’schen Märchen haben ihren Ursprung in einer Zeit, als Wölfe und Menschen zu Rivalen im Überlebenskampf wurden. Weil immer mehr Wälder gerodet wurden, haben die Tiere immer weniger Nahrung gefunden. Sie haben sich den Bauern genähert und deren Nutztieren. Eine verhängnisvolle Entwicklung. Für die hungerleidenden Bauersleute war der Verlust der Kuh oder des Schweins eine Frage der eigenen Existenz. Der Wolf wurde gejagt, verfolgt, ausgerottet. 150 Jahre lang war Isegrim in Deutschland verschwunden.
150 Jahre war der Wolf aus Deutschland verschwunden
Seit dem Jahr 2000 ist er wieder da. Genauso wie die Ängste. Egal, wie unbegründet sie sind. Man würde eher sechs Mal den Jackpot im Lotto gewinnen, bevor ein Mensch ernsthaft von einem Wolf gefährdet werde, sagen Experten. Tatsächlich gab es seit seiner Rückkehr keine einzige Attacke in Deutschland, in der ein Wolf einen Menschen angegriffen hätte. Den Wolfsbesuch in Trebitz halten Naturschützer daher auch nicht für eine gezielte Grenzüberschreitung, sondern glauben, dass das Tier im Jagdfieber unaufmerksam geworden ist.
Nach Berlin kommen die Raubtiere sowieso nicht, allenfalls streift ein Tier auf Reviersuche den äußersten Rand. Dennoch gibt es auch in der Hauptstadt immer wieder Wolfsmeldungen. Etwa vom Ku’damm. Der vermeintliche Wolf entpuppte sich als Collie. Ein anderer als Husky, wie in Zehlendorf. Ohnedies sind Wölfe gut beraten, die Hauptstadt zu meiden. Zwei bis drei Graupelzen hat die Autobahn im Norden schon das Leben gekostet. Verkehrsunfälle sind die häufigste Todesursache, gefolgt von illegalen Tötungen, in denen Wolfshasser zur Selbsthilfe greifen.
Valeska de Pellegrini kennt die drei großen „S“ der illegalen Wolfstöter: Schießen, Schaufeln, Schweigen. Sie ist seit Mai 2017 Wolfsbeauftragte des Landes Brandenburg, die erste, die diesen Titel offiziell trägt. Sie berät Tierhalter, wie sie ihre Tiere besser schützen können. Und wie das Land dabei hilft. 100 Prozent der Kosten für wolfsgerechte Zäune und Herdenschutzhunde trägt das Land Brandenburg. Allerdings bekommen landwirtschaftliche Betriebe innerhalb von drei Jahren maximal 15.000 Euro Unterstützung insgesamt – für den Wolfsschutz, Futter- oder Dürrehilfen.
Drei vier Beratungstermine hat die Wolfsbeauftragte pro Woche
Drei bis vier Beratungstermine hat die 41-Jährige in der Woche. So wie an diesem Freitag in Liebenthal nördlich von Berlin. Im Januar hat der Wolf im dortigen Wildpferdegehege und Haustierpark ein Mufflonschaf gerissen, das soll sich nicht wiederholen. Doch das Gelände wolfssicher zu machen, ist nicht leicht. Das Areal ist 40 Hektar groß, das entspricht etwa 55 Fußballfeldern. Die Weiden, auf denen Wildpferde, Schafe und Rinder grasen, sind von Wald umzäunt. Ein 1,70 Meter hoher Festzaun soll die Tiere schützen, auch die Ferkel, die schon jetzt durch den Matsch galoppieren. Doch der alte Zaun hält die Raubtiere nicht ab. Im märkischen Sandboden findet der Wolf Stellen, an denen er sich unter dem Zaun hindurchgräbt.
Auch die zwei großen Herdenschutzhunde, die dort nachts patrouillieren, können die Wölfe nicht vertreiben. Sie leben nicht bei den Herden, sondern laufen auf den Gängen auf und ab, um zweibeinige Eindringlinge zu vertreiben. Die großen ruppigen Tiere, 3000 bis 5000 Euro teuer, würden es zwar auch mit dem Wolf aufnehmen, sind aber nicht für jede Herde geeignet. Mit Wildtieren lassen sie sich nicht kombinieren, und auch eine Mutterkuhherde würde die Hunde nicht akzeptieren. Als Wächter von Schafen und Ziegen haben sich die Tiere allerdings bewährt.
De Pellegrini versucht, ein Nebeneinander von Mensch und Wolf möglich zu machen. Karnivoren haben sie seit jeher fasziniert. Sie hat Füchse, Wölfe und Bären in freier Wildbahn beobachtet, ist gelernte Hundetrainerin und Verhaltensberaterin. In Eberswalde hat sie ökologisches Waldmanagement studiert. Mit ihren langen Rastalocken mag sie vielleicht manchen Brandenburger Bauern beim ersten Treffen verstört haben. Doch Valeska de Pellegrini ist unideologisch, pragmatisch, zupackend. Bauern und Jägern begegnet sie auf Augenhöhe. Sie hat selbst einen Jagdschein und hält privat Hühner, Enten und Kaninchen.
Der Wolf ist ein Opportunist
"Die Menschen müssen ihre Nutztiere besser schützen“, sagt die Wolfsbeauftragte. Eine Position, die sie mit Bundesumweltministerin Svenja Schulze teilt. Anders als ihre Kabinettskollegin Julia Klöckner ist die SPD-Politikerin dagegen, den Schutz des Wolfs zu lockern. Sie will stattdessen den Schutz der Beutetiere erhöhen. Denn der Wolf ist ein Opportunist. Er nimmt die Beute, die er am leichtesten bekommt. Anders als Wildschweine, die ihm tödliche Verletzungen zufügen können, sind Schafe und Ziegen in Wolfsaugen die bessere Wahl – wenn sie nicht genug gesichert sind.
„Der Mensch hat die Tiere wehrlos gezüchtet“, gibt Christiane Schröder, Wolfsexpertin des Nabu Brandenburg, zu bedenken. „Er hat den Kühen die Hörner genommen, dafür gibt es jetzt Stromzäune.“ Wolfsgerechte Zäune oder Schutzhunde können helfen oder besonders gesicherte Weiden, auf denen die Bauern ihre trächtigen Mutterkühe vor dem Abkalben sammeln und bewachen. Bevor der Wolf zurückkam, war das in Deutschland nicht nötig, für die Bauern, die mit der Weidetierhaltung ohnedies keine Reichtümer verdienen, ist die Umgewöhnung nicht leicht. Anders als in Rumänien oder Portugal, wo der Wolf nie fort war, sagt de Pellegrini. Doch welcher Schafhirte in Deutschland will heute noch draußen bei seinen Tieren schlafen?
Bauer Frenzel hat Konsequenzen gezogen. Er hat einen Elektrozaun gekauft mit fünf Stromleitungen. Seine Verluste haben sich seitdem reduziert. „Die Wölfe gehen jetzt zum Nachbarn.“
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