Mensch und Tier: Wer hat Angst vorm Wolf?
Der Wolf ist zurück in Deutschland. Das ist ein Erfolg für den Naturschutz. Aber auch ein Problem für viele Menschen. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
- Cordula Eubel
- Richard Friebe
- Carsten Werner
Es geht um den Schutz der Natur – und ihre Gewalt. Um die Realität ländlicher Räume und die gefühlte Sicherheit in Dörfern und Städten. Nicht zuletzt geht es auch um Migration. Die Deutschen und die Wildnis waren sich fremd geworden. Doch jetzt beschäftigen ein paar hundert Wölfe die Politik, in Brandenburg wurden erste Elche gesichtet und der Bundesgerichtshof muss im Januar über das Schicksal einiger ausgewilderter Wisente und junger, durch sie gefährdeter Buchenwälder entscheiden.
Die Rückkehr auch großer Tiere nach Deutschland ist ein Erfolg weltweiter und europäischer Naturschutzprogramme für gefährdete Arten. Wölfe – von der Natur eigentlich als Regulatoren vorgesehen –, waren hier nahezu ausgerottet. Mit ihrem Auftauchen lebt auch die Konkurrenz zwischen den Tieren und den Menschen wieder auf. Während sich die Wölfe erfolgreich vermehren, wird die Natur immer mehr zum Lebens- und Freizeitort. Vor allem in den „Speckgürteln“ der Städte und in ländlichen Gebieten greifen menschliche und tierische Lebensräume ineinander über.
Vielen Bewohnern ländlicher Räume macht Angst, dass ihnen Tiere nahe kommen könnten, die wirtschaftliche Schäden anrichten – und töten können: So kann Naturschutz auch als Bedrohung empfunden werden. Einzelne bedrohliche, auffällig gewordene und sich unnatürlich verhaltende Tiere dürfen deshalb abgeschossen werden. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) hat jetzt darüber hinaus vorgeschlagen, die Bestände generell zu regulieren – also den Abschuss von Wölfen von deren Zahl abhängig zu machen.
Wie viele Wölfe gibt es in Deutschland?
Laut einer Meldung des Bundesamtes für Naturschutz vom November 2018 ist in Deutschland aktuell die Existenz von 73 Wolfsrudeln bekannt. Wie viele einzelne Tiere es sind, ist schwer abzuschätzen. Während Jagdverbände von mehr als 1000 ausgehen, schätzen Naturschutzorganisationen die Zahl auf nicht viel mehr als 150 erwachsene Wölfe. Tatsächlich variiert die Zahl pro Rudel meist zwischen fünf und etwa 15 einschließlich der Jungtiere und Welpen – mit einer Tendenz zu eher kleineren Individuenzahlen pro Rudel. Aber auch einige Einzelgänger sind unterwegs. So käme man bei 73 Rudeln auf 700 bis 800 Tiere, die jetzt in Deutschland leben. Im Land Brandenburg gibt es laut Landesamt für Umwelt derzeit 26 Rudel und zusätzlich 12 Paare. Unbestritten ist, dass die Populationen wachsen. Landwirtschaftsministerin Klöckner geht davon aus, dass der Wolfsbestand jedes Jahr um 25 bis 30 Prozent pro Jahr wachse, sich also alle drei bis vier Jahre verdoppele.
Wie entwickelt sich die Einstellung der ländlichen Bevölkerung?
Besonders im Nordwesten Deutschlands haben sich die wild lebenden Tiere ausgebreitet, die meisten leben aber in Brandenburg. Ihr Vorkommen konzentriert sich in einem Band, das sich von der sächsischen Lausitz über Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen bis nach Niedersachsen erstreckt. Wölfe wurden auch in früheren Jahrzehnten in Deutschland immer wieder beobachtet und auch geschossen. Aber erst seit dem Jahr 2000 gibt es, zuerst in der Lausitz, nachweislich wieder Rudel, die auf deutschem Gebiet Welpen bekommen und hier nachhaltig hier ihre Reviere haben. Inzwischen müssen sich selbst Großstädte mit der Angst vor den Tieren befassen und berufen Wolfsbeauftragte, die ihre Entwicklung beobachten, Schäden beurteilen und über Schutzmaßnahmen mitentscheiden.
In den ländlichen Teilen etwa des Bundeslandes Brandenburg hat mit der Zunahme der Wolfsrudel auch die Skepsis zugenommen. In vielen Gemeinderäten und Ortschafts-Vertretungen kommt das Thema regelmäßig zur Sprache. Häufig finden sich Mehrheiten, die ihre Gemarkung zur „wolfsfreien Zone“ erklärt wissen wollen. Eine entsprechende Online-Petition wurde schon von mehr als 7000 Personen unterzeichnet. Wölfe sollten demnach aus der Kulturlandschaft ferngehalten werden und auf Schutzgebiete beschränkt bleiben. Gelegentlich werden auch Wölfe illegal abgeschossen.
Wieso nimmt die Zahl der Tiere so stark zu?
Strenge Schutzvorschriften wie die Fauna-Flora-Habitat- Richtlinie im EU-Recht und das deutsche Bundesnaturschutzgesetz führten dazu, dass wieder Wölfe nach Deutschland einwanderten und ihre Population nun stetig wächst. „Ein großer Erfolg für den Artenschutz“, stellten die Grünen in 2018 in einem Bundestagsantrag fest. Gut zehn Jahre zuvor hatte Sigmar Gabriel als SPD-Umweltminister der großen Koalition 2007 erklärt, dass bis 2020 das Artensterben gestoppt werden solle. In vielen Bereichen ist das bisher nicht gelungen – und auch beim Wolf geben Naturschützer trotz der steigenden Populationszahlen noch längst keine Entwarnung. Denn nicht nur die Zahl der Rudel steigt, wie die Präsidentin des Bundesamts für Naturschutz, Beate Jessel, vor kurzem berichtete: „Auch die Zahl der Totfunde hat zugenommen“, sagt sie. Nach Verkehrsunfällen seien illegale Tötungen die zweithäufigste Todesursache.
Wie leben Wölfe, wie verhalten sie sich?
Wölfe sind Raubtiere. Wenn sie töten, halten sie sich nicht an Vorschriften, die das Leid ihrer Opfer minimieren würden: Wölfe „reißen“ ihre Beute: Das Wort beschreibt den Vorgang tatsächlich, wie er ist. Sie können auch in der Gruppe ihrer Beute nachstellen. Hierzulande jagen Grauwölfe aber meist allein, während das zweite Elterntier sich um das Rudel kümmert. Dadurch, dass Wölfe bevorzugt kranke und geschwächte Rehe, Hirsche und Wildschweine jagen, spielen sie eine Rolle bei der Gesunderhaltung von deren Populationen. Auch der Wildverbiss an Jungbäumen nimmt in Gebieten mit Wölfen oft ab, weil etwa Rehe in ihrer Zahl begrenzt werden – unter anderem auch dadurch, dass häufig Kitze gerissen werden. Ihr unromantisches Verhalten hat ihr Image sicher mit geprägt. Ein Rudel benötigt ein relativ großes Revier, in Mitteleuropa mindestens 100 Quadratkilometer.
Wie gefährlich sind Wölfe für Nutztierherden?
In Gegenden mit Weidetierhaltung sind geschwächte, aber vor allem junge Tiere oft bevorzugte Beute. Betroffene Bauern berichten nicht nur von zahlenmäßigen Schäden, sondern auch von aus menschlicher Sicht grausamen Szenerien. Allerdings ist auch hier hinsichtlich der Fakten viel Unsicherheit im Spiel, denn in flagranti wird ein Wolf selten beobachtet. So können Risse auch das Werk von freilaufenden Hunden sein. In manchen Gegenden haben sich nach Angaben des Bundesverbandes der Berufsschäfer auch Raben und Krähen auf Lämmer spezialisiert und töten dort nachweislich mehr Tiere als Wölfe.
Sind Wölfe für Menschen gefährlich?
Ein Großteil der durch Wolfsbisse verursachten Todesfälle in früheren Jahrhunderten war auf die Übertragung von Tollwut zurückzuführen. Seit die Tiere in Deutschland wieder heimisch geworden sind, ist kein einziger Fall eines Wolfsangriffes auf Menschen sicher nachgewiesen. Im November erlitt ein Friedhofsgärtner im niedersächsischen Steinfeld eine Bisswunde, die er einem von vier Wölfen zuschrieb, die sich ihm von hinten genähert hätten. Belege dafür ließen sich nicht finden. Insgesamt sind Attacken extrem selten, auch die von Steinfeld könnte eher eine Folge des Schreckens auf Seiten des Wolfes gewesen sein, als der Gärtner plötzlich nach hinten griff. Auch in langjährig von Wölfen und Menschen gemeinsam besiedelten Regionen Polens, Sloweniens, Italiens und der Schweiz sind seit Mitte des vorigen Jahrhunderts keine Wolfsangriffe bekannt. Auch Gewöhnung an den Menschen wurde dort kaum je beobachtet. Wo die aber passiert, etwa Wölfe von Menschen gefüttert werden, dürfte die Gefahr wachsen. Einzelne Angriffe, teils mit Todesfolge, sind in Spanien, Indien, Kanada und den USA dokumentiert. 2017 wurde berichtet, in Griechenland sei eine Touristin getötet worden – allerdings wurde dort auch ein Rudel verwilderter Hunde beobachtet, Wölfe aber nicht gesichtet.
Gibt es eine Ur-Angst vor dem Wolf?
Menschen haben, seit sie Afrika verlassen haben, fast überall wo sie seither leben, ihre Lebensräume mit Wölfen geteilt: Sie konkurrierten mit ihnen um Nahrung, auch um Unterschlupf in Höhlen. Gegenseitig aggressive und auch tödlich endende Begegnungen kamen immer wieder vor. Die Tatsache, dass Wölfe – obwohl aus ihnen die Haushunde gezüchtet wurden – sich nur schwer an Menschen gewöhnen und sich wenn irgend möglich von ihnen fernhalten, ist vermutlich Ergebnis dieser Jahrhunderttausende alten Abneigung und Konkurrenz. Es gibt experimentelle Hinweise darauf, dass uns zwar nicht die Angst vor dem Wolf angeboren ist, die Neigung dazu aber schon – wie gegenüber anderen potenziell gefährlichen Tieren wie Schlangen und Skorpionen.
Der mythische „böse“ Wolf kommt in alten Überlieferungen vieler Volksgruppen vor, etwa in Grimms „Rotkäppchen“. Seit Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“ von 1894 oder Sergei Prokofjews „Peter und der Wolf“ von 1936 beschäftigen sich zeitgenössische Literatur und Filme aber auch mit der schwierigen Annäherung von Wolf und Mensch.
Wie beschäftigt sich die Politik mit Wölfen?
Im Februar 2018 debattierte das Parlament intensiv darüber, wie mit der Wolfspopulation umzugehen sei. „Gerade die Menschen in den ländlichen Räumen, wo der Wolf schon heute herumstreift, machen sich Sorgen, dass sie nicht gehört werden“, sagte der FDP-Abgeordnete Karlheinz Busen. Das macht einen grundsätzlichen Konflikt zwischen globalen Interessen wie dem Artenschutz und denen der ländlichen Bevölkerung deutlich, hier insbesondere der Weidetierhalter. Auch die Grünen, traditionell auf der Seite der Naturschützer, sehen die Notwendigkeit, gesellschaftliche Akzeptanz für Artenschutz erst noch zu schaffen: Sie hänge „im großen Maße“ davon ab, ob aus der „natürlichen Konkurrenz“ entstehende Herausforderungen gelöst würden. Dazu gehört, dass extensiv gehaltene Herden von Schafen, Ziegen und Rindern besser geschützt werden, etwa durch Hütehunde oder Zäune. „Wenn wir wollen, dass der Konflikt aufgelöst wird, müssen wir diesen Wandel unterstützen“, sagt Grünen-Chef Robert Habeck. Die große Koalition hat im Sommer beschlossen, dass auffällige Wölfe abgeschossen werden können. Habeck findet, die Entscheidungen darüber könnten unbürokratischer fallen. Die AfD möchte die Kriterien für ihre Einstufung als „problematisch“ absenken. Die FDP würde den Wolf gerne als jagdbare Tierart in das Bundesjagdgesetz aufnehmen. Die Grünen lehnen eine Art Obergrenze für Wölfe und eine Regulierung durch Abschüsse ab. Für die von CDU-Landwirtschaftsministerin Klöckner nun geforderte regelmäßige „gemäßigte Bestandsregulierung“ müsste das Bundesnaturschutzgesetz geändert werden, das in die Zuständigkeit von Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) fällt.