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Immer teurer. Die Krankenkassen sind alarmiert über die Preisentwicklung für neue Arznei.
© Hans-Jürgen Wiedl/dpa

Preisexplosion für patentgeschützte Arzneimittel: Wenn eine Arznei eine Million kostet – pro Packung

Die gesetzlichen Kassen stöhnen über die Preisexplosion für patentgeschützte Medikamente: Diese wenigen zehren mit 21 Milliarden Euro die Hälfte der Ausgaben auf.

Obwohl patentgeschützte Arzneimittel die Versorgung nur zu 6,5 Prozent abdecken, entfällt fast die Hälfte aller Arzneiausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf solche Medikamente. Das ist einer jüngst veröffentlichten Auswertung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zu entnehmen. Die Kosten für patentgeschützte Arzneimittel erreichten demnach im vergangenen Jahr mit 21 Milliarden Euro einen neuen Höchststand. Insgesamt beliefen sich die GKV-Ausgaben für Medikamente auf 43,9 Milliarden.

In ihrer Analyse beklagen die Forscher eine Entwicklung hin zu immer teureren Patentarzneimitteln, mit denen – auf die Gesamtheit bezogen –  immer weniger Patienten versorgt würden. „Die hohen Preise für patentgeschützte Arzneimittel ermöglichen der Pharmaindustrie hohe Gewinne auf Kosten der Beitragszahlenden“, sagte der stellvertretende WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder. „Wenn sich dieser Trend fortsetzt, wird die Entwicklung der Preise für die Finanzen der gesetzlichen Krankenkassen in Zukunft noch bedrohlicher.“

Pro Verordnung im Schnitt mehr als 470 Euro

Den Angaben zufolge stiegen die Nettokosten des GKV-Arzneimittelmarktes im Vergleich zu 2018 um sechs Prozent – und wie schon in den Vorjahren sei dafür „vor allem der Trend zu hochpreisigen Produkten verantwortlich“. Die Zahl der Verordnungen nämlich erhöhte sich lediglich um 1,1 Prozent. Und die durchschnittliche Verordnung für ein Generikum kostete auch im vergangenen Jahr 2019 gerade mal 33,92 Euro.

Für patentgeschützte Arzneimittel mussten die Kassen im Durchschnitt dagegen stolze 471,50 Euro ausgeben. Über sämtliche Medikamente gerechnet kostete eine Verordnung die GKV durchschnittlich 63,55 Euro. Das waren 4,9 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Arzneimittelausgaben bildeten den drittgrößte Ausgabenposten für die gesetzlichen Krankenkassen, ihr Anteil betrug 16,1 Prozent an den Gesamtausgaben von knapp 250 Milliarden Euro.

Interessant ist hier auch der Blick auf die Entwicklung über einen größeren Zeitraum. 2010 konnten mit patentgeschützten Arzneimitteln noch 11,8 Prozent aller Tagesdosen erreicht werden, der Kostenanteil betrug damals 43,8 Prozent. Inzwischen liegt der Kostenanteil bei 47,9 Prozent für gerade mal 2,9 Prozent der Tagesdosen. Der Versorgungsanteil mit Patentarznei ist deutlich gesunken, der Umsatzanteil dennoch weiter gestiegen.

Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) stellte die WIdO-Zahlen infrage. „Der Vergleich der Arzneimittel-Ausgaben aus dem Jahr 2019 mit 2018 ist, in der Form wie es das WIdO macht, irreführend“, sagte vfa-Sprecher Jochen Stemmler dem Tagesspiegel Background Gesundheit & E.-Health. Denn zwischenzeitlich habe sich die Bemessungsgrundlage geändert. „Richtig ist, dass in den letzten zehn Jahren die Arzneimittelausgaben nur um durchschnittlich 3,1 Prozent pro Jahr gestiegen sind.“

Hohe Gewinne mit Blockbuster-Medikamenten

Im patentgeschützten Markt würden "immer höhere Preise für Arzneimittel zur Versorgung von immer weniger Patientinnen und Patienten aufgerufen“, bilanzierte dagegen Schröder. Diese Marktentwicklung sei „besorgniserregend“. Denn gleichzeitig blieben die Gewinnmargen der Pharmaindustrie auf konstant hohem Niveau. Und die 21 umsatzstärksten Arzneihersteller legten im vergangenen Jahr noch einmal zu: Sie erreichten EBIT-Margen („earnings before interest and taxes“) von durchschnittlich 24,7 Prozent.

Auf die höchste Marge kam dem Bericht zufolge im vergangenen Jahr der Hersteller Biogen mit 50,6 Prozent (Blockbuster: Tecfidera) – gefolgt von Novo Nordisk mit 43,4 Prozent (Blockbuster: Novorapid), Amgen mit 41,6 Prozent (Blockbuster: Kanjinti) und AbbVie mit 41,2 Prozent (Blockbuster: Humira). Zum Gewinner des Jahres wurde die Firma AstraZeneca, die ihr EBIT binnen eines Jahres um 77 Prozent steigern konnte (auf nun 13 Prozent). Die absolut höchsten Gewinne konnte Roche mit 19,8 Milliarden Euro einfahren.

Dabei sei die Pharmabranche schon 2018 mit durchschnittlich 21,0 Prozent hochrentabel gewesen, heißt es in der WIdO-Analyse. Nach Angaben von Ernst & Young habe sie damit selbst die Branchen der Telekommunikation und der Informationstechnologie weit übertroffen, die gerade mal auf EBIT-Margen von jeweils 14 Prozent gekommen seien.

Die hohen Gewinne sind laut WIdO auch auf die drei umsatzstärksten Medikamente des Jahres 2019 zurückzuführen: die beiden Gerinnungshemmer Eliquis (840 Millionen Euro) und Xarelto (761 Millionen Euro) sowie der TNF-Blocker Humira, der zur Therapie von entzündlich-rheumatischen Erkrankungen oder chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt wird (697 Millionen Euro). Allein dieses Medikamenten-Trio produzierte 5,2 Prozent der Gesamtkosten für Arzneimittel. Der Versorgungsanteil dieser Produkte lag aber bei bescheidenen 1,1 Prozent.

„Sechsstellige Preise für neue Arznei an der Tagesordnung“ 

Vor fünf Jahren habe die Einführung der „1.000-Dollar-Pille“ Sovaldi zur Behandlung von Hepatitis C mit einem Packungspreis von knapp 20.000 Euro noch Empörung ausgelöst, berichtete Schröder. Mittlerweile seien „sogar sechsstellige Arzneimittelpreise für Neueinführungen an der Tagesordnung“. Und in diesem Jahr kämen erstmals auch Arzneimittel mit Packungspreisen jenseits der Millionengrenze auf den deutschen Markt.

Die Neueinführungen der vergangenen drei Jahre hätten im Mai 2020 im Mittel mehr als 27.000 Euro pro Packung verschlungen, so die Forscher. Auf den Spitzenplätzen: das Arzneimittel Zynteglo zur Behandlung einer seltenen Form von Blutarmut mit einem Packungspreis von 1,575 Millionen Euro, auf dem deutschen Markt seit drei Monaten. Und seit Juli 2020 jetzt noch Zolgensma zur Behandlung der Spinalen Muskelatrophie, das teuerste Arzneimittel der Welt mit einem Preis von 1,945 Millionen Euro pro Packung. Die Gentherapie wird einmalig verabreicht. 

Es seien „unter anderem diese hohen Preise, die der Pharmaindustrie ihre hohen Gewinne ermöglichen“, sagte Schröder. Dafür aufkommen müsse die Solidargemeinschaft der gesetzlich Versicherten. Angesichts solcher Preisgestaltung im Patentsegment müsse der Gesetzgeber „darüber nachdenken, wie Arzneimittel auch künftig für alle bezahlbar bleiben können“.

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