Novartis verlost teuerstes Medikament der Welt: Wieviel ist uns die Gesundheit des Individuums wert?
Novartis stellt Zolgensma zur Behandlung von Kleinkindern in eine Lotterie. Die Frage ist, wieviel Spitzenmedizin wir dem Einzelnen zugestehen. Ein Kommentar.
Das deutsche Gesundheitswesen ist eines der besten der Welt. Bessere Spitzenmedizin gibt es unter anderem in den USA, jedenfalls für jene, die es sich leisten können. Auch die Bundesrepublik ist nicht frei von Ungleichheiten, schaut man auf die Parallelsysteme von privater und gesetzlicher Krankenversicherung.
Was das deutsche Gesundheitssystem auszeichnet, ist ein Versprechen: Jeder Mensch bekommt unabhängig von seinem Einkommen die bestmögliche Therapie nach dem aktuellen Stand der Medizin. Eine „Lotterie“, wie sie der Schweizer Pharmariese Novartis nun beim teuersten Medikament der Welt, Zolgensma, begonnen hat, ist die glatte Antithese zu diesem Versprechen. Doch gleichzeitig ist sie nur ein Symptom einer Entwicklung, auf die die deutsche Gesundheitspolitik eine Antwort finden muss. Wieviel Spitzenmedizin gestehen wir dem Einzelnen zu?
Zolgensma ist Spitzenmedizin, auch wenn die langfristige Wirksamkeit beim Menschen noch bewiesen werden muss. Mit einer einmaligen Gabe soll die 2,1 Millionen Dollar teure Spritze einen Gendefekt beseitigen, die Spinale Muskelatrophie (SMA), die in ihrer schweren Form innerhalb der ersten beiden Lebensjahre meist tödlich verläuft. Noch gibt es nur in den USA, aber nicht in Europa eine Zulassung für das Medikament.
Doch schon jetzt ist die Nachfrage weltweit so groß, dass deutsche Gesundheitspolitiker von Novartis fordern, das Medikament kostenlos zu vergeben. Im Rahmen eines „Härtefallprogramms“ ist das möglich, es geht dabei auch darum, zusätzliche Daten zur Wirksamkeit zu generieren und damit den Zulassungsprozess zu beschleunigen.
Novartis lässt sich darauf nicht ein, und startet stattdessen nun ein globales Härtefallprogramm, bei dem nur hundert Kinder weltweit eine Chance bekommen. Kinder aus Deutschland werden nur wenige, vielleicht auch gar keine, darunter sein. Novartis verweist darauf, dass die Auswahl mit einer Ethikkommission begleitet werde und vermeidet tunlichst das Wort „Lotterie“. Doch faktisch läuft es für die Eltern, die auf eine Therapie hoffen, genau darauf hinaus.
Immer mehr Therapien für kleinere Patientengruppen
Bislang gibt es in Europa sechs zugelassene Gentherapien, und es werden dank des wissenschaftlichen Fortschritts in den kommenden Jahren neue dazukommen. Immer bessere Kenntnisse genetischer Zusammenhänge werden immer mehr Therapien ermöglichen, die auf immer kleiner werdende Patientengruppen mit seltenen Erkrankungen abzielen.
Und je weniger Patienten es pro Krankheit es gibt, desto mehr muss pro Patient erlöst werden, um die Entwicklungskosten eines Medikaments wieder reinzuholen, die ebenfalls ansteigen, je spitzer in der Entwicklung auf bestimmte Gendefekte abgezielt wird.
Neues Medikament für bis zu drei Millionen Dollar
Gerade ist aus San Francisco von einem neuem Gentherapeutikum zu hören, das demnächst für bis zu drei Millionen Dollar auf den Markt kommen könnte. Damit wird greifbar, was „individualisierte Medizin“ bedeutet: Individualität hat schon immer gekostet. In der Medizin könnte sie irgendwann unbezahlbar werden.
Und damit wird an einem Grundpfeiler des deutschen Gesundheitswesens gesägt. Es ist nicht mehr lange Spitzenmedizin für jeden möglich, eben weil der Einzelne erstmals zum Gegenstand der Spitzenforschung wird. Die hitzige Debatte um die Zolgensma-Verlosung kann daher nur ein Vorgeschmack auf das sein, was auf uns alle zukommt: die Frage, wieviel uns die Gesundheit des Individuums wert ist.
In einem Krankenversicherungssystem, das seit Bismarck auf das Prinzip der Solidarität setzt und in einer Gesellschaft, die sich augenscheinlich immer weiter entsolidarisiert, liegt darin Sprengkraft. Wie wir, die Solidargemeinschaft, damit umgehen, das wird die wahre Millionen-Frage sein, die wir in den nächsten Jahren zu klären haben. Eine Novartis-Lotterie könnte vor dem moralischen Dilemma, dem wir uns stellen müssen, ganz schnell verblassen.