Pharmaindustrie fahndet nach neuen Wirkstoffen: Wenn Antibiotika nicht mehr wirken
Aufgrund der zunehmenden Resistenzen versucht die Pharmabranche, ihre fast schon eingestellte Antibiotika-Forschung wiederzubeleben. Doch die Erfolgsaussichten sind mäßig.
Es ist eine Horrorvision. Schwer kranke Patienten sprechen nicht mehr auf handelsübliche Antibiotika an. Es gibt keine verlässlichen Mittel mehr gegen Wundinfektionen, Lungenentzündung, Diphterie, Scharlach, Syphilis. Operationen werden zum unkalkulierbaren Risiko. Bakterielle Infektionen, dank moderner Therapien bei den Todesursachen inzwischen weit hinter Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen rangierend, werden wieder zur Geißel der Menschheit.
Fakt ist: Die Resistenzen gegen Antibiotika befinden sich weltweit auf überaus bedenklichem Level. Und die Pharmabranche hat sich auf Erfolgen der Vergangenheit ausgeruht. Brachte sie zwischen 1980 und 2000 pro Jahr noch rund 20 neue Antibiotika auf den deutschen Markt, waren es zwischen 2001 und 2010 gerade mal acht. Viele Firmen seien einer Fehleinschätzung aus Analystenkreisen aufgesessen, sagen Experten. Sie lautete: Antibiotika-Forschung lohne sich nicht mehr, es gebe genug wirksame Mittel.
In manchen Ländern ist schon jeder zweite Keim resistent
Von wegen. In Portugal liegt die Resistenzrate beim Staphylococcus aureus, also der Anteil des gefürchteten Krankenhauskeims MRSA, nach einem Expertenbericht der Wissenschaftsakademie Leopoldina aus dem Jahr 2013 bereits bei über 50 Prozent. In US-Kliniken sind Vancomycin-resistente Enterokokken (VRE), die unter anderem Blutvergiftung hervorrufen, ein Riesenproblem, die Rate der resistenten Keime beträgt dort 50 Prozent. Beim Penicillin-resistenten Streptococcus pneumoniae (PRSP), ursächlich für Lungen- und Hirnhautentzündung, kommt Spanien auf 30, Frankreich auf 28 Prozent.
Und in Deutschland waren 2012 bereits mehr als 70 Prozent der Tripper-Bakterien restistent gegen fast alles, was bisher so geholfen hat: Penicilline, Fluorchinolone, Tetracycline.
Industrie verspricht "mindestens 17 neue Mittel"
Immerhin scheint die Industrie die „Marktlücke“ jetzt zumindest erkannt zu haben. Nach Angaben des Verbands forschender Pharmaunternehmen arbeiten weltweit derzeit acht große und mehr als 20 kleine und mittelständische Unternehmen an neuen Antibiotika. Von den Großen engagierten sich Sanofi, Bayer, Roche, Astra-Zeneca, daneben die US-Firmen Cubist und The Medicines Company – und in Deutschland AiCuris (Wuppertal), Aviru (München) und Evotec (Hamburg).
Als Folge seien bis 2020 „mindestens 17“ neue Antibiotika zu erwarten, sagt der zuständige Verbandsgeschäftsführer Siegfried Throm. Drei neue Mittel befänden sich bereits im europäischen Zulassungsverfahren, neun weitere in der letzten Phase der klinischen Erprobung.
Schon die acht Antibiotika, die zwischen 2001 und 2010 herauskamen, wurden fast durchweg mit dem Ziel entwickelt, Resistenzen zu überwinden. Seither sind fünf weitere auf dem Markt. Das Breitband-Antibiotikum Ceftarolin gegen MRSA. Das Präparat Fidaxomicin gegen den Darmkeim Clostridium difficile. Zwei neue Mittel gegen Tuberkulose, die in Kombination mit älteren Medikamenten gegen multiresistente Keime wirken. Und zwei speziell gegen in Krankenhäusern erworbene Lungenentzündungen.
Große Probleme bei gramnegativen Bakterien
Dennoch dämpft die Branche hohe Erwartungen. Man teile „die Befürchtungen, dass die Pipelines für neue Antibiotika angesichts der weitgehend ungebremsten Resistenzbildung und -verbreitung mittelfristig nicht ausreichen können, um auch weiterhin den Bakterien eine Länge voraus zu sein“. Zwar sei man in der Forschung gegen MRSA auf gutem Wege. Nicht recht weiter komme man jedoch bei so genannten gramnegativen Bakterien wie Klebsiellen und Acinetobacter sowie bei von jeher schwer therapierbaren Infektionen wie einem Pseudomonas-Befall der Lunge bei Mukoviszidose-Patienten, der muskelzerstörenden Tropenkrankheit Buruli-Ulkus und Infektionen in abgestorbenem Gewebe.
Was die Forschung lähmt, sind auch die Ertragsaussichten. Die seien trotz zunehmender medizinischer Nöte nach wie vor nicht verlockend, klagen die Hersteller. Zum einen sei es aufwendig, überhaupt noch Antibiotika-Klassen mit neuem Wirkprinzip zu erfinden. Zum andern eignen sich Innovationen nicht zum Geldverdienen. Schließlich dürfen sie keine Blockbuster werden. Im Gegenteil: Als Reserve-Antibiotika sollen sie ja, um neue Resistenzen zu vermeiden, gerade möglichst selten zum Einsatz kommen.
Um die Lasten zu schultern, sei man daher „auf Partner angewiesen“, sagt VfA-Hauptgeschäftsführerin Birgit Fischer. Nötig seien „neue Public-Private-Partnerships für die antibakterielle Therapieentwicklung“. Nur durch eine Aufteilung der wirtschaftlichen Risiken zwischen öffentlichen Einrichtungen, Stiftungen und Industrie könne man vorankommen.
Hersteller wollen höhere Preise verlangen dürfen
Und finanziell gedrückt werden dürften die Hersteller neuer Antibiotika von den Krankenkassen künftig auch nicht mehr, fordert die Lobbyistin. Bei der Nutzenbewertung zur Preisfestsetzung sei gefälligst zu berücksichtigen, ob die neuen Präparate imstande seien, bestehende Bakterienresistenzen zu brechen.
Die Entwicklung resistenter Bakterien an sich sei unvermeidlich, betont der Pharmaexperte Throm. Durch einen rationelleren Gebrauch von Antibiotika lasse sie sich allerdings hinauszögern. Dazu müssten alle beitragen. Die Patienten durch durch konsequentere Antibiotika-Einnahme und Nutzung von Impfangeboten – nicht nur gegen gefährliche Bakterien, sondern auch gegen die Virusgrippe, die oft bakterielle Folgeinfektionen nach sich ziehe. Die Ärzte durch gezieltere Verschreibung. Und die Kliniken durch bessere Hygiene und Keim-Prophylaxe. Mit ihrem rigorosen Screening sämtlicher Klinikpatienten auf MRSA etwa hätten Dänemark und die Niederlande ihre Resistenzrate auf unter ein Prozent gedrückt.
Politik muss Verschreibungspflicht europaweit durchsetzen
Gefordert sei aber auch die Politik. Deutschland müsse sich international dafür einsetzen, dass Antibiotika überall verschreibungspflichtig und nicht mehr zur Tiermast verwendet werden, fordern die Hersteller. Zudem sei in bessere Diagnostik zu investieren. Bei den bisherigen Tests dauere es oft tagelang, bis man den Erreger entdeckt habe, sagt Throm. Bis dahin seien Ärzte gezwungen, Patienten mit Breitbandantibiotika zu behandeln.
Nach Verbandsangaben kombiniert die Firma Roche ihre wieder aufgenommene Antibiotikaforschung gezielt mit der Entwicklung besserer Schnelldiagnostik. Wenn diese verfügbar sei, müsse die Selbstverwaltung darauf reagieren, fordern die Hersteller. Die neuen Tests müssten dann „umgehend in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen und angemessen vergütet werden“.
Rainer Woratschka