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Der häufige Gebrauch von Antibiotika birgt Risiken.
© dpa

Die Antibiotika-Schwemme: Eine Wunderwaffe wird stumpf

Experten sind seit langem beunruhigt. Nun belegt eine neue Studie: In Deutschland werden viel zu viele Antibiotika verordnet. Welche Gefahren ergeben sich daraus?

Eine Wunderwaffe wird stumpf. Mit diesem Warnruf hat die Krankenkasse DAK jetzt eine Kampagne gegen den sorglosen Umgang mit Antibiotika gestartet und dazu auch eine Studie veröffentlicht. Das Ergebnis: In Deutschland werden viel zu viele dieser Medikamente verordnet.

Wie oft werden hierzulande Antibiotika verschrieben?

Im vergangenen Jahr haben vier von zehn Befragten mindestens einmal Antibiotika eingenommen – ein Anstieg um 1,5 Prozentpunkten gegenüber 2012. Verordnet wurden 3,5 Millionen Packungen. Und mit Blick auf die Diagnose war jede dritte dieser Verordnungen fragwürdig. Die Mittel wurden oft auch bei Vireninfektionen der oberen Atemwege eingesetzt, gegen die Antibiotika, wenn nicht noch eine bakterielle Besiedlung dazukommt, nicht wirken. Zudem waren sie kaum auf spezielle Erreger abgestimmt. Die am häufigsten verschriebenen Wirkstoffe (Amoxicillin, Ciprofloxacin, Cefuroxim) sind allesamt Breitbandantibiotika.

Wer bekommt diese Arzneimittel besonders häufig – und woran liegt das?

Frauen, Kinder, alte Menschen – und Westdeutsche. Während im vergangenen Jahr 44 Prozent der weiblichen DAK-Versicherten Antibiotika bekamen, lag der Männeranteil bei nur 36 Prozent. Zum Teil liege das daran, dass Frauen häufiger unter Harnwegsinfekten litten, bei denen häufig Antibiotika verordnet würden, sagt der Bremer Arzneiexperte Gerd Glaeske. Von den unter 15-Jährigen bekamen im vergangenen Jahr 45 Prozent Antibiotika verschrieben – sie sind häufiger erkältet als Erwachsene. Und bei Älteren – von den über 90-Jährigen bekam ebenfalls fast jeder Zweite solche Medikamente verordnet – wollen Ärzte offenbar kein Risiko eingehen. Es gibt aber auch regionale Unterschiede. Während Versicherte in Rheinland-Pfalz 2013 im Schnitt mehr als sieben Tagesdosen verordnet bekamen, waren es in Brandenburg nur 4,64 Dosen. Generell werden im Osten weniger Antibiotika verschrieben als im Westen. Einfluss aufs Verordnungsverhalten habe zweierlei, sagen Experten: die Erwartungshaltung der Patienten und die Einstellung der Ärzte. Womöglich resultiere das Gefälle ja daher, dass diese Mittel im Osten früher nicht so verfügbar waren.

Warum werden Antibiotika so oft verordnet?

Fast zwei Drittel aller Rezepte stammen von Hausärzten – und die hohe Zahl verschriebener Breitbandantibiotika lässt darauf schließen, dass sie oft gar nicht eruieren, um welche Erreger es sich handelt. Viele argumentieren auch, dass ihre Patienten Antibiotika erwarten – was von der Umfrage belegt wird. Drei von vier Befragten verlangen demnach solche Mittel, wenn ihre Erkältungsbeschwerden nicht nachlassen. Jeder Vierte möchte sie, um im Beruf nicht länger auszufallen. Und 17 Prozent drängen darauf, wenn ihr Kind eine Infektion hat. Das alles könne aber keine Entschuldigung sein, sagt Glaeske, den Ärzten obliege schließlich die Therapieverantwortung. Bis zu 90 Prozent der Erkältungskrankheiten seien viral verursacht – und vier von zehn Befragten wüssten nicht, dass Antibiotika nur gegen Bakterien wirkten. Es gelte deutlich zu machen, dass es sich um „keine Universalmittel“ handle. Im Gegenteil: Die Nebenwirkungen, etwa für den Darm, seien oft beträchtlich.

Wie gehen die Patienten selbst mit diesen Medikamenten um?

Ebenfalls zu sorglos. Laut Umfrage brechen jeweils elf Prozent selbstständig ihre Antibiotika-Therapie ab oder reduzieren die Dosis, sobald sie sich besser fühlen – was die Gefahr, dass sich resistente Keime entwickeln, massiv erhöht. Und 14 Prozent heben übrig gebliebene Tabletten auf, um im Bedarfsfall sich oder andere Haushaltsmitglieder wieder damit zu versorgen. Mancherorts glichen die Apothekenschränke Sondermülldeponien, sagt Glaeske. Nicht verbrauchte Antibiotika gehörten entsorgt – und zwar nicht über die Toilette, wodurch sie ins Grundwasser gelangten, sondern mit dem Hausmüll.

Welche Risiken sich aus dem sorglosen Umgang mit Antibiotika ergeben

Welche Risiken birgt der sorglose Umgang mit Antibiotika?

Immer mehr Bakterien entwickeln Resistenzen und sprechen nicht mehr auf Antibiotika an. Das gefährdet vor allem Krankenhauspatienten mit geschwächtem Immunsystem. Laut Bundesgesundheitsministerium ziehen sich pro Jahr in deutschen Kliniken bis zu 600 000 Patienten solche Infektionen zu, bis zu 15 000 sterben daran. Laut WHO sind in Europa bereits bis zu 60 Prozent der Staphylococcus aureus Methicillin-resistent (MRSA). Gegen die von ihnen verursachten Wundinfektionen und Lungenentzündungen sind dann auch Penicillin und Cephalosporine machtlos. Auch resistente Darmbakterien sind auf dem Vormarsch. Zwischen 1999 und 2006 stieg der Anteil Fluorchinolon-resistenter Escherichia-coli-Bakterien hierzulande von vier auf 29 Prozent. Und die Zahl der DAK-Versicherten mit resistenten Keimen, die 2013 in Kliniken behandelt wurden, hat sich binnen drei Jahren um knapp ein Drittel erhöht. In ihrer Not greifen Ärzte immer häufiger zu sogenannten Reserveantibiotika. Doch auch gegen diese Mittel, die oft schwere Nebenwirkungen haben, gibt es inzwischen Resistenzen. Der Zusammenhang zwischen hohem Antibiotikaverbrauch und der steigenden Rate resistenter Keime sei wissenschaftlich belegt, sagt der leitende Krankenhaushygieniker am Uniklinikum Münster, Frank Kipp.

Woher kommen Antibiotika-Resistenzen sonst noch?

Aus der Landwirtschaft, denn auch Nutztiere schlucken diese Mittel in viel zu großer Menge. 2012 lag die Antibiotika-Abgabe an Tierärzte in Deutschland bei 1619 Tonnen. Das meiste davon ging an Hühner, Schweine und Rinder. Zwar dürfen Antibiotika seit 2006 nicht mehr prophylaktisch verabreicht werden, doch von einer gezielten Behandlung erkrankter Tiere kann keine Rede sein. Im Schnitt erhält hierzulande jedes Schwein während seiner Mast an 4,2 Tagen einen antibiotischen Wirkstoff verabreicht, jedes Hähnchen an 10,1 und jede Milchkuh an 3,5 Tagen. 2013 hat die Stiftung Warentest in elf von 20 untersuchten Hähnchenschenkeln aus Supermärkten ESBL-bildende Bakterien gefunden, die ganze Antibiotikagruppen außer Kraft setzen. Jeder vierte war mit dem Klinikkeim MRSA belastet.

Was kann man gegen die Überversorgung tun?

Vor allem aufklären. Wenn Patienten besser über Wirkung und Risiken von Antibiotika informiert würden, erwarteten sie diese nicht mehr bei jedem Husten oder Schnupfen, sagt Glaeske. Im Zweifel sollten Mediziner den Keim bestimmen lassen, bevor sie Antibiotika verschreiben. Es bedürfe verbindlicher Leitlinien zur Antibiotika-Verordnung durch Ärzte. Und womöglich könnten auch Begriffsänderungen helfen. Um die Sache klarer zu machen, sollte man künftig vielleicht lieber von „Virusbronchitis“ oder „Brustkorberkältung“ sprechen, meint der Experte.

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