Proben für den großen Stromausfall: Was, wenn Berlin im Dunkeln sitzt?
Das Risiko großer Stromausfälle wird immer größer - Stromanbieter müssen darauf vorbereitet sein. Doch wie realistisch ist die Versorgung von 3,5 Millionen Berlinern in acht Stunden?
Im Norden der Stadt, am Rande des Märkischen Viertels, ist es besonders frostig. Im Werk von Europas größtem Hersteller von Tiefkühlpizza, Freiberger Lebensmittel, lagern im Schnitt rund 6300 Paletten. 3000 Tonnen Ware, zum Teil roh: Teig, Wurst, Fisch, Tomaten. Und die fertigen Pizzen und Baguettes natürlich. Letztere müssen bei minus 20 Grad Celsius auf den Abtransport warten. Es sind Millionenwerte. Die werden geschützt durch Kühlanlagen mit einer Leistung von insgesamt fünf Megawatt. In den vergangenen Jahren gab es in der Fabrik immer wieder mal kurze Stromausfälle, teils nur für wenige Sekunden. So ein Aussetzer in der Versorgung bedeutet bei Freiberger immer 20 bis 30 Minuten totalen Produktionsstopp. Die Fertigungsstraßen müssen dann jedes Mal neu eingestellt werden. „Das ist ärgerlich und kostet Geld“, sagt Freiberger- Sprecherin Ute Fath. Wirklich dramatisch würde es aber erst, wenn der Strom länger als zwei Tage ausfiele. Erst dann würde auch in den Kühlhäusern die Temperatur nicht mehr ausreichen, um die Waren frisch zu halten. „Aber so etwas gibt es hierzulande ja eigentlich nicht.“
Eigentlich. Tatsächlich sind echte Blackouts, also längere Stromausfälle, in Deutschland extrem selten. Den letzten großen Ausfall gab es im Jahr 2005 im Münsterland. Da waren viele Strommasten nach einem Schneesturm unter der Last umgeknickt und einige Gemeinden noch vier Tage danach ohne Strom. Und doch steigt die abstrakte Gefahr, dass sich derartige Ereignisse wiederholen. So prognostizieren Meteorologen eine Häufung von Wetterextremen, Schneestürme und Hitzewellen. Darunter leiden Kraftwerke, die Wasser zur Kühlung brauchen. Windräder schalten bei Orkanen in Leerlauf und gehen vom Netz, Solarparks produzieren unter Schnee kaum Strom. Im Jahresschnitt wird heute schon rund ein Viertel des benötigten Stroms regenerativ erzeugt. Doch die Stromproduktion schwankt extrem stark, teils innerhalb einer Viertelstunde, was die Betreiber von Stromübertragungsnetzen zunehmend in die Bredouille bringt, die Netzfrequenz stabil um die 50 Hertz zu halten.
Bei Vattenfall, dem Betreiber des knapp 36 000 Kilometer langen Stromverteilnetzes in Berlin, ist man besorgt wegen der Entwicklung. Thomas Schäfer, technischer Leiter des Stromnetzes, sagt, er halte einen Ausfall der Versorgung in ganz Berlin zwar für „unwahrscheinlich“. Allerdings bestätigt er, dass es für sein Team zunehmend schwierig wird, den Stromfluss stabil zu halten, da die Stadt große Teile des Stroms aus dem Umland importieren muss.
Schäfer wäre im Fall der Fälle Leiter des Vattenfall-Krisenstabes, der in einem fensterlosen Raum in der unscheinbaren Leitstelle in Berlin-Tiergarten einziehen würde. Ein bis zwei Mal im Jahr probt sein Team dort den Ernstfall. Denn ohne Strom geht nichts mehr: Straßenverkehr und der elektronische Zahlungsverkehr würden sofort, die Wasserversorgung nach Minuten, die Handynetze nach spätestens zwei Stunden zusammenbrechen. Schäfer behauptet immerhin: „Nach spätestens acht Stunden würden wir in Berlin eine Teilversorgung aufbauen.“
Als Unternehmer kann man sich auf derartige Aussagen verlassen – oder nicht. „Ich bezweifle, dass der Aufbau nach einem Totalausfall so schnell gelingen würde“, sagt Stephan Boy, Geschäftsführer des Kompetenzzentrums Kritische Infrastrukturen (KKI). Bevölkerung, Behörden und Unternehmen würden das Stromausfallrisiko systematisch unterschätzen. Boys KKI macht aus der Sorge um die Folgen der Energiewende, die er eine „Operation am offenen Herzen der Stromversorgung“ nennt, ein Geschäft, oder besser: mit der Vorsorge. KKI wurde vor zwei Jahren von der NBB Netzgesellschaft Berlin Brandenburg ausgegründet. Die mit 36 Mitarbeitern noch kleine, aber schnell wachsende Firma mit Sitz am Euref-Campus im Schatten des Schöneberger Gasometers bietet Beratungen, Dienstleistungen und Havarie-Trainings an – und betreibt eine Telefonzentrale für die Annahme von Störungsfällen bei Energieversorgern. Gegen eine Gebühr analysiert die Firma auch Betriebe in Hinblick auf Notfallversorgung. Je nach Aufwand und Betriebsgröße kostet so eine Beratung ab 5000 Euro.
In den vergangenen drei Monaten hätten sich die Anfragen gehäuft, sagt KKI- Chef Boy. Sie kämen aus allen Branchen: der Chemieindustrie, der Metallverarbeitung, aber auch der Immobilien- oder Versicherungswirtschaft. „Die Frage ist immer: Wie können wir uns vor Ausfällen schützen?“ Die Antworten reichen von einfachen Tipps (Batterien und Taschenlampen bereitstellen, Pläne und Telefonnummern auf Papier ausdrucken) bis hin zu Empfehlungen für den passenden Notstromgenerator oder den Aufbau eines lokalen Funknetzes, das sich bei Stromausfall selbst aufbaut. Boy betont, dass KKI nicht mit Herstellern zusammenarbeite, sondern unabhängige und maßgeschneiderte Empfehlungen gebe.
Eine Empfehlung könnte zu Time-Kontor in Berlin-Mitte führen, einer Firma, die ebenfalls umfangreiche Beratung anbietet und spezialisiert ist auf den Aufbau von lokalen Funknetzen und den Betrieb von Notstromaggregaten. Sie ist auch für die Charité und die Berliner Wasserbetriebe tätig. „Noch nicht einmal die, von denen man es erwarten würde, wie Polizei oder Feuerwehr, sind für den Stromausfall gerüstet“, sagt Time-Kontor-Chef Thomas Leitert. Noch gibt es bundesweit nur wenige Spezialfirmen wie KKI oder Time-Kontor. Sobald es wieder zu einem Ausfall kommt, dürften viele – auch schwarze Schafe – hier ein Geschäft wittern. Für Unternehmer bleibt es eine Risikoabwägung. Wie wahrscheinlich ein längerer Ausfall ist, kann niemand seriös sagen. Aber wenn die Katastrophe eintritt, rentiert sich die Anschaffung eines Sicherheitssystems immerhin mit dem Faktor sieben. So lautet eine Faustformel von Katastrophenschützern.
Beim Pizzaproduzenten Freiberger lebt man mit dem Risiko. Dort leistet man sich weder eine Versicherungspolice gegen Stromausfälle noch ein Notstromaggregat. Dies wäre bei den dort benötigten fünf Megawatt Leitung auch sehr teuer – und so groß wie ein Einfamilienhaus.