Streit um den Brexit: Was der EU-Austritt für die britische Wirtschaft bedeuten würde
In sechs Wochen stimmen die Briten über den EU-Austritt ab. Kommt es zum Brexit, hätte das harte Konsequenzen für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Großbritannien und den EU-Staaten.
Es ist nicht immer leicht, ein Europäer zu sein. Das weiß David Lidington aus eigener Erfahrung. „Europa ist nicht perfekt“, sagt er. „Wenn 28 Staaten einen Kompromiss suchen, ist es klar, dass Sie nicht jeden Streit gewinnen können.“ Trotzdem sei das kein Grund aufzugeben – erst recht nicht, die EU zu verlassen, meint Lidington. Er hat derzeit nicht den leichtesten Job. Lidington ist Europa-Minister in Großbritannien. Ausgerechnet in dem Land, das darüber nachdenkt, ob es noch zur EU gehören will oder nicht.
Wie sein Chef, Premierminister David Cameron, ist Lidington im Moment auf Werbetour. Für den Verbleib Großbritanniens in der EU – gegen den Brexit. Gut sechs Wochen bleiben ihnen noch, um die Briten von Europa zu überzeugen. Dabei ist längst nicht gesagt, dass sie gewinnen werden. Die Kommunalwahlen in diesen Tagen gelten als Stimmungstest: Je besser die EU-kritische Partei Ukip abschneidet, desto wahrscheinlicher dürfte der Brexit werden.
Beide Seiten, EU-Gegner wie -Freunde, argumentieren vor allem mit ökonomischen Gründen. Im Zentrum steht die Frage: Wie viel Wirtschaftsleistung würde ein Brexit die Briten kosten? Oder würde ein EU-Austritt der Wirtschaft sogar guttun, wie die Brexit-Befürworter meinen?
Was der Brexit die Briten kosten könnte
Europa-Minister Lidington zitiert am liebsten die Zahlen, die das britische Finanzministerium kürzlich veröffentlicht hat. Demnach kostet der Brexit jeden Briten auf Dauer 4300 Pfund (umgerechnet 5400 Euro) – und zwar pro Jahr. Lidington und seine Mitstreiter argumentieren, dass ein Austritt Großbritanniens aus der EU wie eine massive Steuererhöhung wirken würde. Mit dem Unterschied, dass man Steuergelder immerhin noch für das Gemeinwohl ausgeben kann.
Teuer würde der Brexit für die Briten vor allem deshalb, weil sie dann sehr wahrscheinlich mehr für importierte Waren zahlen müssten. Und weil sie ihrerseits nicht mehr so leicht ihre Produkte in EU-Länder exportieren könnten. Hinzu kommt, dass ausländische Investoren britischen Firmen weniger Geld zur Verfügung stellen dürften. Die könnten dann weniger forschen, weniger produzieren – und letztlich auch nicht mehr so viele Mitarbeiter beschäftigen.
Die meisten Unternehmer sind deshalb auch strikt gegen einen Brexit. Laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung sprechen sich 76 Prozent der britischen Manager für einen Verbleib in der EU aus. Auch Carolyn Fairbairn wirbt aktiv gegen den Brexit. Sie ist die Cheflobbyistin der „Confederation of British Industry“, Großbritanniens größtem Unternehmerverband. Der Brexit wäre ein „Schock für Großbritanniens Wirtschaft“, sagt sie. Fairbairn rechnet vor, dass durch den Austritt des Landes aus der EU bis 2020 etwa 950.000 Jobs verloren gingen.
Großbritannien zählt zu den Netto-Zahlern der EU
Doch das ist nur eine Sichtweise auf die Dinge. Die Brexit-Befürworter halten von dieser Rechnung wenig. Sie sehen Europa vor allem als Bürde. Die Mitgliedschaft in der EU kostet aus ihrer Sicht nur Geld. Tatsächlich gehört Großbritannien wie Deutschland zu den Netto-Zahlern der EU: Das heißt, das Land leistet mehr Beiträge an Brüssel, als es an Fördermitteln oder Subventionen zurückbekommt.
Jährlich zahlt Großbritannien unterm Strich fünf Milliarden Euro für die Mitgliedschaft in der EU. Allerdings ist das gemessen an der Wirtschaftskraft des Landes noch vergleichsweise wenig. Denn woran sich die anderen EU-Staaten stoßen: Die Briten bekommen bereits eine Ermäßigung, den sogenannten BritenRabatt. Den hat Margaret Thatcher 1984 ausgehandelt, weil Großbritannien weniger als andere Länder von den massiven Agrarsubventionen der EU profitiert.
Trotz dieses Rabatts meinen die Brexit-Befürworter, dass Großbritannien besser dran wäre, wenn es gar nichts mehr an die EU zahlen müsste. So argumentiert zum Beispiel der britische Ökonom Warwick Lightfoot. Er sagt, durch die EU-Subventionen im Agrarsektor würden in Großbritannien vor allem große landwirtschaftliche Betriebe gefördert. Dabei bräuchten vielmehr die kleinen Höfe Hilfe, die noch in Familienhand sind. Warwick plädiert für den Brexit, „weil dann die britische Regierung, nicht die EU, darüber entscheidet, wie das Geld der Steuerzahler ausgegeben wird“. Er ist damit einer von acht Wirtschaftswissenschaftlern, die sich zu den „Economists for Brexit“ zusammengeschlossen haben und aktiv für den EU-Ausstieg werben.
Wie geht es mit dem Wirtschaftsbeziehungen weiter?
Die größte Frage ist allerdings, wie es mit den Wirtschaftsbeziehungen zwischen Großbritannien und den anderen EU-Ländern nach einem Brexit weitergehen würde. Noch ist Großbritannien Teil des EU- Markts, einer der größten Binnenmärkte der Welt. Gemeinsam tragen die EU-Länder mittlerweile 17 Prozent zum globalen Bruttoinlandsprodukt bei – etwa genauso viel wie die USA oder China. Damit haben sie eine gewisse Macht. Zudem profitiert Großbritannien bislang stark davon, die eigenen Waren ohne Zölle oder andere Handelshemmnisse in EU-Länder verkaufen zu können: Denn die Briten exportieren 50 Prozent ihrer Güter und 40 Prozent ihrer Dienstleistungen in die EU.
Auf einen Plan B, der nach einem Brexit greift, hat Premier Cameron bislang bewusst verzichtet. Er will gar nicht erst darüber nachdenken, was passiert, wenn die Briten nicht mehr zur EU gehören. Andere tun das dagegen schon. Nigel Farage zum Beispiel, der Chef der rechtspopulistischen Partei Ukip. Er meint, Großbritannien sollte dem Beispiel Norwegens folgen. Norwegen ist nicht in der EU – und doch Teil des Europäischen Wirtschaftsraums: einer Art Freihandelszone, zu der neben Norwegen und der EU auch Island und Liechtenstein gehören. Auf diese Weise bekommt Norwegen auch ohne EU-Ticket freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt.
Der Haken: Im Gegenzug muss sich das Land an einen Großteil der EU-Vorgaben halten und das ohne Einfluss auf deren Ausgestaltung zu haben. Das werden die meisten Briten allerdings kaum wollen – schließlich wünschen sie sich mehr Entscheidungsspielraum, nicht weniger. Dazu kommt noch, dass Norwegen auch einen finanziellen Beitrag an die EU leisten muss, um überhaupt im Wirtschaftsraum mitmischen zu dürfen.
Bekommt Großbritannien einen Status wie die Schweiz?
Alternativ könnten die Briten wie die Schweiz bilaterale Vereinbarungen mit der EU für einzelne Sektoren treffen. Doch auch das hat Nachteile. Zum einen müssten sie sich auch in diesen Bereichen an die EU-Regeln halten. Zum anderen erlaubt die Vereinbarung zwischen Schweiz und EU nur den Austausch von Waren, nicht den von Dienstleistungen. Für die Briten wäre das kaum eine Option. Schließlich sind Finanzdienstleistungen ihr wichtigstes Exportprodukt.
Aus diesem Grund wirbt Boris Johnson, der scheidende Bürgermeister Londons und einer der prominentesten Brexit-Befürworter, für eine dritte Möglichkeit: Großbritannien könnte mit der EU ein eigenes Freihandelsabkommen aushandeln. Als Vorbild gilt Ceta, das Abkommen zwischen der EU und Kanada. Allerdings ist die Frage, wie realistisch das ist. Ein Freihandelsabkommen zu schließen ist nicht trivial. Im Fall von Ceta dauern die Gespräche bereits seit sieben Jahren an. Großbritannien müsste dagegen eine Lösung innerhalb von zwei Jahren finden, wenn es nicht vom EU-Markt abgeschnitten werden will.
Deshalb sagt Europa-Minister Lidington, die Brexit-Befürworter machten sich etwas vor. Ein bisschen Europa gehe nun mal nicht. Man könne nicht von den Vorteilen des europäischen Binnenmarkts profitieren wollen, ohne die Nachteile einer Staatengemeinschaft in Kauf zu nehmen. Lidington kämpft nicht nur für den Verbleib in der EU – sondern auch um seinem Job als Europa- Minister. Den macht er schon jetzt länger als jeder seiner Amtsvorgänger. Er nimmt das mit britischem Humor: „Ich weiß nicht, ob das ein Lob ist oder eine Strafe.“