Aus dem Dax geflogen: Was der Abstieg der Lufthansa über die deutsche Wirtschaft verrät
Die Lufthansa verschwindet an diesem Montag aus dem Dax. 47 Mal hat sich dessen Zusammensetzung bereits geändert. Was verraten die Auf- und Abstiege?
Mit dem heutigen Montag ist Berlin um eine Attraktion reicher. Die Hauptstadt hat 14 Jahre nach der Schering-Übernahme durch Bayer wieder einen Dax-Konzern. Das Immobilienunternehmen Deutsche Wohnen rückt in die erste Börsen-Liga auf. Absteigen muss dafür ein Gründungsmitglied: Die Lufthansa ist erstmals nicht mehr im Index der 30 größten Unternehmen des Landes gelistet.
Auch die Neun-Milliarden-Rettung des Bundes konnte den Absturz infolge der Coronakrise nicht mehr verhindern.
Ein Immobilienkonzern steigt auf, eine Airline ab. Wie immer, wenn sich der deutsche Leitindex verändert, sagt die Bewegung auch etwas über die Wirtschaftsentwicklung allgemein aus.
47 Mal hat die Zusammensetzung des Dax seit seiner Einführung im Jahr 1988 gewechselt. Und ein Blick auf diese Auf- und Abstiege gleicht damit einem Kurzausflug in die jüngere deutsche Wirtschaftsgeschichte.
Doch wer ist überhaupt im Dax und woran wird festgemacht, wer rausfliegen muss? Der Index listet die 30 nach Börsenumsatz und Streubesitz-Marktkapitalisierung wertvollsten Unternehmen in Deutschland. Das heißt: Die Firmen, deren frei handelbare Aktien jeweils zusammengerechnet am meisten wert sind, kommen in den Dax. Dabei muss ein Anteil von mindestens zehn Prozent der Aktien frei handelbar, also im Streubesitz sein. Wenn mehr als 90 Prozent nicht dem Börsenhandel zur Verfügung stehen, ist der Weg in den Dax versperrt.
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Jedes Jahr im September gibt es einen regulären Anpassungstermin. Doch kommt es zu außergewöhnlichen Kursverläufen, Insolvenzen oder anderen Aktualisierungen, sind auch Änderungen mitten im Jahr möglich. So auch bei der Lufthansa. Ihr Aktienwert hat sich innerhalb der vergangenen zwei Jahre halbiert, im April war ein Anteilsschein mitunter nur noch gut sieben Euro wert. Die Marktkapitalisierung liegt bei fünf Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das derzeit wertvollste deutsche Unternehmen SAP hat eine Marktkapitalisierung von rund 146 Milliarden Euro. Die der Deutsche Wohnen liegt bei 14 Milliarden.
1988 hatte das Finanzwesen den größten Anteil
Zudem ist bei der Lufthansa der Teil der Aktien im Streubesitz zuletzt stark gesunken, da im März der Münchner Unternehmer und Milliardär Heinz Hermann Thiele über seine Investmentholding KB Holdings als Großaktionär eingestiegen ist und derzeit 15 Prozent der Aktien hält. Mit Deutsche Wohnen ist nach Vonovia bereits der zweite Immobilienkonzern im Dax. Das zeigt, welchen Aufschwung die Wohnungswirtschaft in den vergangenen Jahren erlebte.
Bei der Dax-Gründung war davon noch keine Rede. 1988 hatte das Finanzwesen den größten Anteil. Darunter waren auch längst vergessene Namen wie die Bayerische Vereinsbank oder die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank, die sich zehn Jahre später zusammenschlossen und 2005 von Unicredit übernommen wurden. Heute ist mit der Deutschen Bank nur noch ein Geldinstitut im Dax vertreten. Und deren Aktie ist mit gut acht Euro derzeit auch noch die billigste in Index.
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Dass auch Karstadt und Kaufhof zu den Gründungsmitgliedern des Index gehörten, zeigt, welche Stellung Warenhäuser damals noch hatten. Auch der Bedeutungsverlust der Industrie lässt sich an der Zusammensetzung des Dax ablesen. Schwergewichte wie Thyssen, Feldmühle Nobel oder Deutsche Babcock haben sich mit der Zeit verabschiedet. An Gewicht gewonnen hat hingegen der IT-Bereich mit Infineon und SAP, das 1995 in den Dax aufstieg.
Mit dem Abstieg der Lufthansa – deren Firmensitz nicht in Frankfurt, sondern in Köln liegt – hat nun auch Nordrhein-Westfalen, die Wiege der deutschen Industrie, nicht mehr die meisten Unternehmen im Dax. Mit nun neun Vertretern ist Bayern nach diesem Ranking der wichtigste Wirtschaftsstandort in Deutschland.
Delivery Hero oder Zalando könnten aufsteigen
Und wie geht es weiter? Tatsächlich ist der nächste Wechsel im Dax bereits denkbar. Der Skandal um Wirecard, das erst 2018 die Commerzbank ersetzt hatte, könnte zu einem Abstieg des Unternehmens aus Aschheim führen. Die Ungereimtheiten rund um die Bilanz 2019 und die fehlenden 1,9 Milliarden Euro könnten weitreichende Folgen bis hin zum Entzug der Banklizenz haben. Der Kurs war am vergangenen Donnerstag deshalb um bis zu 70 Prozent abgestürzt. Erholt sich die Bewertung bis zur nächsten regulären Überprüfung am 3. September nicht, wäre der Abstieg wohl besiegelt, meinen Index-Experten. Die Nachfolger stehen schon bereit.
Als heißeste Anwärter gelten der Aromen- und Duftstoffhersteller Symrise sowie der Online-Essenslieferant Delivery Hero, der stark von der Coronakrise profitiert hat. Sie weisen eine Marktkapitalisierung von 13 beziehungsweise 18 Milliarden Euro vor. Auch das Berliner Unternehmen Zalando (16 Milliarden Euro) wird immer wieder als Dax-Kandidat gehandelt. Wichtig sind Index-Änderungen vor allem für Fonds, die Indizes exakt nachbilden, sogenannte Exchange Traded Funds (ETF).
Die Zugehörigkeit zum Dax ist eine Frage von Prestige – das verliert die Lufthansa jetzt
Auch wenn Anlegern aufgrund der höheren Wachstumsraten meist zu einer internationalen Streuung geraten wird, gibt es diese auch in Form einer Nachbildung des Dax. Dort muss dann umgeschichtet werden, was in der Regel abermals Einfluss auf die Aktienkurse hat.
Nicht zuletzt ist die Zugehörigkeit zum Dax aber auch eine Frage von Prestige: Gerade für internationale Investoren ist das wichtigste deutsche Börsenbarometer das Aushängeschild der deutschen Wirtschaft. Die Lufthansa kann sich damit nun nicht mehr schmücken.
Ob der Abstieg aber nur ein kurzes Intermezzo infolge der Corona-Pandemie ist oder ein Sinnbild dafür, dass der Flugverkehr etwa aufgrund von Nachhaltigkeitszielen insgesamt weniger nachgefragt ist, wird sich zeigen. Jedes Jahr im September.