Diesel-Skandal: VW ruft den Kulturwandel aus
Die Aufklärung des Dieselbetrugs kommt langsam voran. 450 Personen ermitteln, Daten im Umfang von 50 Millionen Büchern wurden gesichert. Eine Zwischenbilanz.
Die kurzen Momente der Heiterkeit genießt Matthias Müller. Die Sprache des VW-Chefs färbt sich bayerisch, als er im Wolfsburger „Mobile Life Campus“ am Donnerstag von einem Journalisten gefragt wird, ob man sich als Gast für die Vorstandssitzungen des VW-Konzerns bewerben könne, um die Krisenmanager zu beobachten. Müllers Mimik entspannt sich, für Sekunden scheint er die Mühen zu vergessen, die die Aufklärung des größten Skandals in der VW-Geschichte bereitet. Müller lächelt. Zum ersten Mal stellt sich der 62-Jährige seit dem Amtsantritt den Fragen der Öffentlichkeit.
„Ich spüre bei vielen im Konzern den Wunsch, wieder uneingeschränkt stolz sein zu können auf das Unternehmen“, berichtet Müller. Doch er bittet um Geduld. Die Folgen der Software-Manipulation bei weltweit elf Millionen Diesel-Fahrzeugen würden VW noch lange beschäftigen. Bis Ende 2016 werde es mindestens dauern, bis alle Autos repariert sind. Jeder Kunde soll individuell informiert und schadlos gehalten werden. Der Konzern will in jedem Land „das passende Paket schnüren“. Auch mit den US-Behörden soll es bald eine Einigung geben. Die möglichen Schadenersatzprozesse, die Beseitigung des Imageschadens und der Umbau des Unternehmens werden Jahre brauchen.
Daten im Umfang von 50 Millionen Büchern wurden gesichert
„VW lebt vom Vertrauen seiner Kunden“, sagt Hans Dieter Pötsch, früher Finanzchef, heute Aufsichtsratsvorsitzender, der neben Müller sitzt. „Wir haben Vertrauen verloren – auch in der Politik und in der Öffentlichkeit.“ Akribisch, wie es seine Art ist, listet Pötsch auf, welche Erkenntnisse man bei der Aufklärungsarbeit bislang gewonnen hat. Es ist nicht besonders viel und wenig konkret. Aber immerhin: Daten im Volumen von 102 Terrabyte habe man gesichtet, das entspreche 50 Millionen Büchern; 87 ausführliche Interviews seien geführt worden, weitere würden folgen. Mehr als 1500 Datenträger, Smartphones und Laptops von 400 Mitarbeitern seien eingezogen, 2000 Beschäftigte angeschrieben worden. „Wir wollen und müssen genau verstehen, wie es dazu kommen konnte“, sagt Pötsch. Dabei sei Sorgfalt wichtiger als Tempo. 450 interne und externe Experten seien dabei, „ohne Ansehen von Personen und ohne Tabus“ Entscheidungswege, Prozesse und Informationsquellen zu untersuchen. Ein bestürzendes Ergebnis dabei: Neben individuellem Fehlverhalten, Schwachstellen in einigen Prozessen und teils veralteten IT-Systemen gebe es in Teilen des Konzerns „die Haltung, Regelverstöße zu tolerieren“. Pötsch gibt zu: „Das ist am schwersten zu akzeptieren.“
VW-Messungen werden künftig extern überprüft
Um möglichen Betrügern die Spielräume zu nehmen, werden Abgasmessungen von VW künftig unabhängig und extern überprüft. Stichprobenartig sollen „Real Life Tests“ zeigen, wie sich die Fahrzeuge auf der Straße verhalten. Bei der Software-Entwicklung für Motorsteuergeräte wird auf das Vier-Augen-Prinzip gesetzt. „Wir brauchen den Mut zu neuer Ehrlichkeit“, sagt Pötsch. VW hatte in elf Millionen Dieselautos eine Software eingebaut, die erkennen konnte, ob ein Auto im Testbetrieb (niedrige Emissionen) oder auf der Straße (hohe Emissionen) unterwegs war. Auch die legalen, branchenweiten Diskrepanzen zwischen den Angaben der Hersteller und den realen Abgaswerten auf der Straße seien „nicht mehr vermittelbar und hinnehmbar“, sagte Pötsch.
Ferdinand Dudenhöffer, Leiter des Duisburger Car-Instituts, kritisierte, das bloße Ausrufen einer neuen Kultur reiche nicht aus. „Vertrauen baut man anders auf“, sagte er dem Tagesspiegel. „Technisch hat man die Probleme offenbar im Griff – die Frage ist: Wie geht es mit VW weiter.“ Die Kultur müsse man zum Beispiel dadurch ändern, dass man die Mehrheitsverhältnisse im Aufsichtsrat ändere, der von den Eigentümerfamilien, dem Land Niedersachsen und den Arbeitnehmern dominiert wird. Verbraucherschützer forderten mehr Klarheit für die Kunden. Die Autofahrer erwarteten, „dass VW endlich aufklärt, wie der Rückruf abgewickelt und wie der Konzern weitere Ansprüche entschädigen wird“, sagte der Chef des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), Klaus Müller. „Insbesondere ein möglicher Wertverlust des Autos oder Mehrverbrauch nach Umrüstung darf nicht zulasten der Verbraucher gehen.“ Matthias Müller blieb hier vage. Kunden dürften durch den Skandal keine Kosten entstehen, sagte er. Anfang Januar soll der weltweite Rückruf der manipulierten Fahrzeuge beginnen und sich bis zum Jahresende hinziehen.
Offene Diskussionen über Fehler
Volkswagen hatte bereits eine Neuausrichtung des Zwölf-Marken-Konzerns auf den Weg gebracht. So sollen die Marken und Regionen künftig mehr Verantwortung bekommen. Der „Kulturwandel“, den Müller ausruft, soll eine engere Zusammenarbeit und eine offene Diskussion über Fehler zulassen. Müller: „Wir brauchen keine Ja-Sager, sondern Manager und Techniker, die mit guten Argumenten für ihre Überzeugungen und ihre Projekte kämpfen – die unternehmerisch denken und agieren.“
An der Börse kam der Auftritt von Müller und Pötsch am Donnerstag zunächst nur mäßig an. Die VW-Aktie drehte im Verlauf der Pressekonferenz nach einem starken Auftakt ins Minus. Bis zum Abend legte sie wieder um 1,9 Prozent zu.