Anlegeranwalt zu Schadensersatz: „VW kann sich Krieg an allen Fronten nicht leisten“
Andreas Tilp, einer der renommiertesten Anlegeranwälte Deutschlands, spricht über weitere milliardenschwere Schadenersatzklagen gegen den Autokonzern. Er vertritt aktuell 880 Mandanten.
DER ANWALT
Andreas Tilp (52) ist einer der renommiertesten Anlegeranwälte Deutschlands. Große Schadenersatzprozesse (Telekom, HRE, Porsche) machten ihn bekannt. Tilp gründete seine Kanzlei 1994 in der Nähe von Tübingen, es folgten Ableger in New York, Portugal und in der Schweiz. Tilp ist verheiratet und hat drei Kinder.
DER FALL
Dem VW-Konzern drohen nach den Abgasmanipulationen an weltweit elf Millionen Diesel-Fahrzeugen Straf- und Schadenersatzzahlungen in Milliardenhöhe. Beim Landgericht Braunschweig gehen Klagen hunderter Geschädigter ein. Bis Herbst soll über ein Musterverfahren entschieden werden.
Herr Tilp, Sie sind ein Gewinner.
Wie kommen Sie darauf?
In der VW-Abgasaffäre gibt es viele Verlierer und eine Berufsgruppe, die immer profitiert: die Anwälte.
Kläger, die in einem Schadenfall Geld zurück bekommen wollen, brauchen Anwälte. Das ist in jedem größeren Fall so. Die Beklagten zahlen nämlich nur selten freiwillig. Echte Gewinner sind die Anwälte, die die Schädiger vertreten. Nehmen Sie den Fall Telekom: 17 000 Kläger haben sich damals auf 910 Kanzleien verteilt – aber nur eine einzige Kanzlei hat die Telekom vertreten.
Der Fall VW, in dem sie hunderte Anleger vertreten, macht Sie also nicht reich?
Reich werden Anwälte nur in den USA, wo es Sammelklagen gibt. Die Anwälte werden dort nicht nur von ihren Mandanten bezahlt, sondern – im Erfolgsfall – aus einem Topf, den die Schädiger füllen und über dessen Ausschüttung die Gerichte entscheiden. Bei einer durchschnittlichen Vergleichssumme von rund 50 Millionen Dollar pro Sammelklage kassieren die Anwälte rund 25 Prozent.
Arm dran sind Sie trotzdem nicht: Wie viele VW-Geschädigte vertreten Sie?
Ich will ja nicht jammern. Wir haben aktuell 880 Mandate von geschädigten VW- Kleinaktionären, die im Schnitt einen Schaden von 49 000 Euro beklagen. Hinzu kommen die 278 institutionellen Anleger mit einer Klageforderung von insgesamt rund 3,3 Milliarden Euro. Diese Klage haben wir vergangene Woche in Braunschweig eingereicht.
Und Sie bereiten weitere Klagen vor?
Wir haben bis heute weitere 20 institutionelle Anleger, die ebenfalls klagen wollen. Ich bin sicher, dass es noch deutlich mehr werden. Mein Ziel ist, dass die zweite Klage größer wird als die erste.
Noch einmal mehr als 3,3 Milliarden Euro?
Ja. Es gibt Investoren, die allein einen Schaden von einer halben Milliarde Euro beklagen. Ich bin zuversichtlich, dass es jetzt erst richtig losgeht, weil auch große Investoren hinzukommen, die VW-Anleihen und Derivate im großen Stil gekauft haben. Auch einige US-Kanzleien werden bis September sicherlich noch größere Klagen einreichen. Ich schätze, dass bis September VW-Klagen im Gesamtvolumen von zehn Milliarden Euro beim Landgericht Braunschweig eingehen.
Von denen sieben Milliarden Euro aus Ihrer Kanzlei stammen?
Das ist unser realistisches Ziel.
Sie trommeln, um im Rennen für das deutsche Musterverfahren vorne zu liegen. Den Zuschlag bekommt ja nur eine Kanzlei.
Wir haben die Klage nicht aus Marketinggründen eingereicht, es ging um Verjährungsfristen. Ich sehe keinen ernst zu nehmenden deutschen Wettbewerber. Das Gesetz schreibt vor, dass das Gericht den Kläger auswählt, der das Musterverfahren optimal führen kann. Ein Kriterium dafür ist, wer die höchste Einzelforderung einklagt – und den Kläger haben aktuell wir unter Vertrag, mit einer Forderung von über 250 Millionen Euro.
In der Öffentlichkeit entsteht aber der Eindruck, als dächten Anwälte vor allem an ihren eigenen Geldbeutel und weniger an ihre Mandanten. Trifft Sie der Vorwurf, Teil einer Klägerindustrie zu sein?
Im Gegenteil. Ich plädiere seit zehn Jahren für eine Klägerindustrie nach US-Vorbild, weil nur sie abschreckend wirkt. Sie wäre eine adäquate Antwort auf die Schädigerindustrie. Am Anfang steht nicht der Kläger, sondern ein vermeintlicher Schaden. Darauf reagieren Anwälte und darüber müssen Gerichte entscheiden. Was kann man dagegen haben, wenn ein Anwalt mit guter Arbeit gutes Geld verdient?
Vorausgesetzt, er macht auch gute Arbeit.
Anlegeranwalt ist zu einem Schimpfwort wie Bankberater geworden, weil es so viele schlechte und unseriöse Anwälte gibt. Das deutsche Vergütungssystem fördert das: Anwälte werden nach der Gebührenordnung bezahlt – egal, ob sie gut oder schlecht arbeiten. Ich bin deshalb ein großer Freund der erfolgsbezogenen Vergütung. Unsere Kanzlei hat nicht nur angekündigt, sondern geliefert. Ich bin kein Ankündigungsanwalt. Wir haben Telekom gewonnen, wir haben HRE gewonnen – und wir werden VW gewinnen.
Telekom-Aktionäre warten noch auf Geld.
Sie haben recht, die Telekom ist ein schlechtes Beispiel, weil das Verfahren schon 16 Jahren dauert – auch, weil es das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz erst seit 2005 gibt. Aber Geld wird fließen, und zwar mit guter Verzinsung.
Anwalt Tilp: "Geschäftsberichte seit 2008 sind falsch"
Warum greifen Sie der Finanzaufsicht Bafin vor, deren Untersuchung, ob VW kursrelevante Informationen zurückgehalten hat, noch gar nicht abgeschlossen sind? Haben Sie bessere Informationen?
Die Bafin wird ihre Ermittlungen nicht bis zum 18. September abgeschlossen haben. Da läuft nach unserer Überzeugung aber die allerwichtigste Verjährungsfrist ab. Wir brauchen die Bafin auch gar nicht, weil ihre Entscheidung keine Bindungswirkung in unserem Zivilverfahren hat. An ihre Unterlagen kommen wir ohnehin nicht ran.
Und wenn die Aufsicht zu dem Ergebnis kommt, dass VW korrekt informiert hat?
Das wäre für unsere Klage egal. Wir haben Dokumente, die beweisen, dass Volkswagen schon im Juni 2008 die Absicht hatte, Abgaswerte der Diesel-Motorbaureihe EA189 zu manipulieren. In den Zulassungsdokumenten für den US-Jetta wiesen die Behörden seinerzeit ausdrücklich auf mögliche Strafen hin, wenn Schummelsoftware verwendet würde. Die Risiken auf dem US-Markt haben sich also schon damals konkretisiert. VW kannte sie, hat aber den Kapitalmarkt darüber nicht informiert und keine entsprechenden Rückstellungen gebildet. Die Geschäftsberichte seit 2008 sind deshalb falsch. Nach unserer Überzeugung bestehen daher Schadenersatzansprüche wegen Wertpapierkäufen seit dem 6. Juni 2008.
Bisher gibt es aber keine Hinweise auf eine aktive Mittäter- oder Mitwisserschaft von Vorstandsmitgliedern.
Voraussetzung für Schadenersatz ist, dass die Volkswagen AG als juristische Person eine Pflicht verletzt hat. Man spricht dann von Wissenszurechnung und vom Organisationsverschulden. In diesen Fällen kann dahinstehen, ob beziehungsweise wann einzelne Vorstandsmitglieder über diese Umstände tatsächlich informiert wurden. Spätestens ab Mai 2014, als VW-Chef Winterkorn einen Vermerk über den Verdacht und die US-behördlichen Ermittlungen erhielt, ist unseres Erachtens jedoch auch von einer solchen Kenntnis des Vorstands, mindestens aber von einer grob fahrlässigen Unkenntnis auszugehen. Letztere reicht im Rahmen der Haftung nach Paragraf 37b Wertpapierhandelsgesetz aus.
Wie begründen Sie den Schaden, der VW-Anlegern entstanden?
Volkswagen hat seit 2007 behauptet, dass man als einziger Autohersteller der Welt die strengsten Umweltauflagen für Diesel-Fahrzeuge einhalten kann. Das hat eine euphorische Stimmung an der Börse erzeugt und den Aktienkurs nach oben getrieben. Hätten Anleger gewusst, dass VW betrügt und Milliardenrisiken verschweigt, hätten sie die Aktie nicht oder zu einem niedrigeren Kurs gekauft. Sie können nun die Rückabwicklung fordern oder den Ausgleich der Differenz.
Und wie viel muss VW am Ende zahlen?
Ich erwarte, dass sich Volkswagen auf Sicht von zwei Jahren weltweit mit allen Anlegern einigen wird. Dieser Fall wird schneller beendet sein als der Telekom-Fall. VW wird sich schneller vergleichen als die Telekom zahlt. Der Autobauer kann sich nicht leisten, jahrelang einen Krieg an allen Fronten zu führen. Das schaffen die nicht.
Der VW-Betriebsrat hat vor „dramatischen sozialen Folgen“ gewarnt, wenn Straf- und Schadenersatzzahlungen überhand nähmen.
Man muss aufpassen, wer hier auf die Tränendrüse drückt. Wenn VW am Ende zusammen 50 Milliarden Euro zahlen müsste, wäre das viel – aber es würde VW nicht umbringen. Ich kann nicht nachvollziehen, mit welcher Strategie der VW-Konzern derzeit vorgeht. Jeder, der in den USA derart ertappt wird, sollte sich 1000 Mal entschuldigen. VW fährt stattdessen eine Konfrontationsstrategie gegenüber den Behörden. Das verstehe ich nicht. In den USA spielt die Musik, hier liegen die weitaus größten Risiken für das Unternehmen.
Das Gespräch führte Henrik Mortsiefer.