Diess entwirft „Horrorszenario“: VW-Chef warnt vor Abbau von 30.000 Arbeitsplätzen
Ärger in Wolfsburg: VW-Chef Herbert Diess hat den Aufsichtsrat mit einer Aussage in Aufruhr versetzt. VW soll produktiver und kostengünstiger werden.
Das Wolfsburger VW-Werk ist die „Hauptstadt“ im Volkswagen-Reich. So nennen sie im Unternehmen die Autofabrik, in der im Corona-Jahr 2020 rund 500.000 Fahrzeuge vom Band liefen. Gut 60.000 Beschäftigte arbeiten im Stammwerk – vielleicht 30.000 zu viel, wie Konzernchef Herbert Diess offenbar meint.
Mit radikalen Überlegungen zum Arbeitsplatzabbau verblüffte Diess am 24. September laut Unternehmenskreisen die Aufsichtsräte und sorgte für einen Aufstand. Zuvor hatte das „Handelsblatt“ darüber berichtet. „Es hat gerappelt“, heißt es bei Teilnehmern. „Diess hat ein Horrorszenario präsentiert und Gegenwind von allen bekommen.“ Bis zu 30. 000 Stellen könnten im Extremfall zur Disposition stehen, so der Vorstandschef, wenn VW nicht mehr wettbewerbsfähig sei.
Die Marke VW, der Kern des Volkswagen-Konzerns, leidet unter hohen Kosten und niedriger Produktivität; vor Corona lag letztere bei gut vier Prozent. Das muss sich nach dem Willen von Diess und Markenchef Ralf Brandstätter schnell ändern. „Wir streben in allen Werken weltweit eine Produktivitätssteigerung von fünf Prozent jährlich an“, bekräftigte Brandstätter kürzlich. Vor allem hohe Fixkosten, die Brandstätter um fünf Prozent bis 2023 senken will, lasten auf der Produktion.
Die Zeit drängt. Denn Volkswagen hat bei der Transformation einen Gegner, der effizienter und schneller ist: Tesla.
Vorbild Tesla
„Tesla in Grünheide wird neue Maßstäbe in der Produktivität und bei den Skalen setzen“, erklärte Volkswagen am Mittwoch. Der US-Konzern will in Brandenburg mit 12.000 Beschäftigten 500.000 E-Autos produzieren. Man müssen sich angesichts neuer Marktteilnehmer „mit der Wettbewerbsfähigkeit unseres Werks in Wolfsburg“ befassen, teilte Volkswagen mit. Konkrete Szenarien gebe es allerdings nicht.
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Mit seinen Äußerungen über den Stellenabbau habe VW-Chef Diess „offensichtlich über ein langfristiges Extremszenario spekuliert und dabei Bezug auf 1994 und die Vier-Tage-Woche genommen“, hieß es am Mittwoch in Arbeitnehmerkreisen. Damals hatte unter dem Vorstandsvorsitzenden Ferdinand Piëch der Arbeitsdirektor Peter Hartz die Vier- Tage-Woche mit einem Teillohnausgleich erfunden, um den von Piëch aufgerufenen Abbau von rund 30.000 Arbeitsplätzen abzuwenden. „Damals lag das Unternehmen am Boden und war kaum noch wettbewerbsfähig“, blickte am Mittwoch ein Arbeitnehmervertreter zurück. Davon könne heute keine Rede sein.
„Ein Abbau von 30.000 Arbeitsplätzen – das wäre in der Volkswagen AG jeder vierte – ist absurd und entbehrt jeder Grundlage“, sagte ein Betriebsratssprecher. Zu Spekulationen aus dem Aufsichtsrat äußere man sich nicht. Von dort ist zu hören, es sei völlig unverständlich, warum Diess die „Mitarbeiter mit unausgegorenen Eventualitäten verunsichert“.
Betriebsrat gegen Vorstand
Die Arbeitnehmerseite, die in keinem anderen deutschen Konzern so einflussreich ist wie bei VW, tut sich seit Jahren schwer mit der ruppigen und als arrogant wahrgenommen Art von Diess. „Die Kritik an Diess ist nicht verstummt“, hieß es am Mittwoch in Gewerkschaftskreisen. „Alle finden den unsympathisch.“ Im vergangenen Jahr wurde es eng für Diess, nachdem er sich auch mit der Kapitalseite im Aufsichtsrat angelegt hatte: Diess warf dem Gremium einen Verstoß gegen die gesetzliche Vertraulichkeitspflicht vor und musste sich dafür entschuldigen. „Diess ist CEO und kein Monarch“, werden im Aufsichtsrat die jüngsten Aufwallungen kommentiert.
In der IG Metall, die mit dem Gewerkschaftschef Jörg Hofmann den stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden stellt, hieß es noch vor gut einem Jahr, Diess würde im Frühjahr 2021 abgelöst. Wenn sich die Arbeitnehmerseite mit dem Land Niedersachsen einig ist, haben sie im Aufsichtsrat eine deutliche Mehrheit. Es kam anders: Der Aufsichtsrat verlängerte den Vertrag von Diess bis 2025. Vorausgegangen waren Investitionszusagen für alle deutschen Standorte. Betriebsbedingte Kündigungen sind im Konzern sei jeher ausgeschlossen, auch im Werk Wolfsburg gibt es derzeit eine Beschäftigungsgarantie bis 2029.
In einem sind sich Betriebsrat und Unternehmensspitze einig: Der Konzern ist grundsätzlich stark genug, um die Transformation in die digitalisierte und elektromobilisierte Welt zu bewältigen. Allerdings sehen die Arbeitnehmer Defizite bei der Umsetzung. „Die Schlüssel dazu, zum Beispiel der Erfolg der Cariad und mehr Konzernsynergien über die Marken hinweg, liegen in der Zuständigkeit von Herrn Dr. Diess“, hieß es in Wolfsburg. Cariad ist das Software-Unternehmen im Konzern, das nach VW-Angaben „die führende Technologieplattform für die Automobilindustrie“ werden soll. Derzeit arbeiten rund 4500 Software-Entwickler und Ingenieure bei Cariad.
Planungsrunde steht bevor
In Teilen der Belegschaft gibt es Sorgen um eine ausreichende Werkbelegung in den kommenden Jahren. „Die schwierige Lage im Werk Wolfsburg bildet einen klaren Schwerpunkt der laufenden Beratungen für die diesjährige Planungsrunde“, sagte Betriebsratschefin Daniela Cavallo kürzlich. Bis Mitte November sollen konkrete Entscheidungen zu Modellen und Standorten im globalen VW-Produktionsnetz fallen. Am 12. November tagt dazu der Aufsichtsrat.
Die Arbeitnehmervertreter weisen die Arbeitsplatzspekulationen von Herbert Diess auch mit dem Hinweis auf eine Studie der Fraunhofer Gesellschaft zurück, die vor knapp einem Jahr die Transformationseffekte für Volkswagen bis Ende des Jahrzehnts ermittelt hatte. Die Kernaussage: „Die Beschäftigungsverluste durch die Einführung der Elektromobilität werden bei Volkswagen im Bereich der Fahrzeugfertigung voraussichtlich weitaus geringer sein als in bisherigen globalen Studien prognostiziert.“