„An den großen Hebeln ansetzen": VW-Chef fordert radikalere Klimapolitik
Fleisch, Fliegen, Autofahren – von allem nur ein bisschen weniger? "Das ist Unsinn", sagt VW-Chef Diess. Er fordert drastische Einschnitte fürs Klima.
Volkswagen-Chef Herbert Diess geht mit der mangelnden Entschlossenheit der deutschen Politik im Kampf gegen den Klimawandel ins Gericht. "Ich persönlich glaube, dass wir generell im bestehenden Parteiensystem der brennenden Frage der Klimaerwärmung zu wenig entgegensetzen", kritisierte er in einem Interview des Fachdienstes "Tagesspiegel Background Mobilität & Transport". "Da könnte man viel mehr tun."
Der Automanager zweifelte insbesondere die Fähigkeit der Regierungsparteien an, in der Klimapolitik umzusteuern. "Es fehlen in der Union und der SPD klare Positionen und der Wille zur Umsetzung", sagte Diess. "Sie haben von allem ein bisschen, aber insgesamt zu wenig." Der Konzernchef monierte, "wie zaudernd mit dem Thema Elektromobilität oder der Energiewende umgegangen wird". Dies komme beinahe einer "Schockstarre" gleich. Diess zeigte vor diesem Hintergrund auch Verständnis für die Klimaproteste, zu denen sich unter dem Motto "Fridays for Future" regelmäßig tausende Schülerinnen und Schüler versammeln. "Ich kann schon verstehen, dass die Jugend deshalb auf die Barrikaden geht."
Mehr Tagesspiegel-Background: Hier lesen Sie das vollständige Interview mit VW-Chef Herbert Diess.
Volkswagen sehe sich dem Pariser Abkommen verpflichtet und wolle bis 2050 klimaneutral werden, sagte Diess weiter im Background-Interview. Um dieses Ziel auch gesellschaftlich zu verwirklichen, hält er jedoch deutlich radikalere Einschnitte als bisher für nötig. "CO2-Neutralität werden wir nicht erreichen, wenn wir von allem nur ein bisschen wollen. Ein bisschen weniger Fleisch essen. Ein bisschen weniger in Urlaub fliegen. Ein bisschen weniger Autofahren", sagte Diess. "Das ist Unsinn." Seine Schlussfolgerung: "Man muss beim Klimaschutz an den großen Hebeln ansetzen – also an der Vermeidung von fossilen Energieträgern. Kohle, Öl, Gas. Vor allem Braunkohle."
Von der Bundesregierung forderte der VW-Chef, international "deutlich mehr" Einfluss auszuüben, um die Energiegewinnung aus Kohle weltweit zu begrenzen. "Es werden aber 500 neue Kohlekraftwerke gebaut und 500 neue geplant." Auch in Deutschland werde der Kohleabbau noch steuerlich gefördert, monierte Diess. "Das ist nicht konsequent. Wir brauchen mehr Entschlossenheit."
Scharfe Kritik an Forderung zu längeren Laufzeiten für Atomkraftwerke
Für Diess kommt auch der bis 2038 vorgesehene Kohleausstieg viel zu spät. "Und die Prioritäten sind falsch gesetzt worden: Man hätte erst aus der Kohle und dann aus der Kernkraft aussteigen sollen." Der VW-Chef fügte hinzu: "Wenn uns der Klimaschutz wichtig ist, sollten die Kernkraftwerke länger laufen." Bislang ist vorgesehen, die letzten Atomkraftwerke bis Ende 2022 vom Netz zu nehmen.
Die Forderung des VW-Chefs zur Atomkraft rief scharfe Kritik hervor. Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth schrieb dazu bei Twitter: "Warum VW-Chef Diess sich zu rückschrittlicher Energieversorgung mit Atomstrom bekennt, statt sich auf eine fortschrittliche Verkehrspolitik und saubere, klimafreundliche Autos für alle Geldbeutel zu konzentrieren, bleibt sein Geheimnis."
Die ehemalige Grünen-Vorsitzende Simone Peter kritisierte Diess dort ebenfalls scharf: "Wer am Atomausstieg rüttelt, wird neben 'Fridays For Future' noch die gesamte Generation 'Atomkraft Nein Danke' marschieren sehen." Und weiter schreibt die Präsidentin des Bundesverbandes Erneuerbare Energie: "Ich erinnere mich an 100.000 in Berlin im Jahr 2010 wegen des Ausstiegs aus dem Atomausstieg.
Linken-Chef Bernd Riexinger kritisierte ebenso den Diess-Vorschlag zur Atomenergie: „Jetzt den Atomausstieg in Zweifel zu ziehen, ist einfach unverantwortlich“, sagte er dem „Business Insider“. „Wir haben keinerlei Lösung für radioaktiven Müll, und wenn wir die nicht haben, können wir auch nicht einfach Atomkraftwerke weiter betreiben“, sagte er Business Insider. Außerdem sei die Frage der Reaktorsicherheit „überhaupt nicht beantwortet“.
Auch der Energieexperte Volker Quaschning drückte sein Unverständnis aus. Er habe zwischendurch den Eindruck gehabt, VW würde sich ändern. "Nun holt Diess die Kernenergie wieder aus der Mottenkiste. Kernkraftwerke sind als Backup für Erneuerbare ungeeignet und blockieren die Energiewende", schreibt der Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin beim Kurznachrichtendienst.
Lindner warnt vor sozialer Spaltung durch Klimapolitik
FDP-Chef Christian Lindner warnt unterdessen vor einer sozialen Spaltung durch die Klimapolitik. Gegenwärtig werde abstrakt über Klimaschutz gesprochen, "ohne dass wir die Preise benennen", kritisierte Linder im "Interview der Woche" des Deutschlandfunks. Seine Sorge sei, dass "die gut Betuchten, die sich grüne CO2-Preise leisten können, so weitermachten wie bisher".
"Die fliegen auch weiter zum Backpacker-Urlaub nach Asien, weil sie sich es leisten können, und die anderen, die nicht so hohes Einkommen haben, das sind dann diejenigen, die auf Auto, auf Urlaub, auf Ernährungsgewohnheiten verzichten müssen und das ist eine neue soziale Spaltung, die wir nicht haben müssen", sagte der FDP-Chef in dem Interview, das am Sonntag ausgestrahlt wird.
Seine Sorge sei, "dass die Zustimmung zu einer radikalen Klimapolitik in den nächsten Jahren und Jahrzehnten massiv zurückgehen könnte, wenn wir tatsächlich die Auswirkungen sehen". Deutschland habe sich für eine Form der Energiepolitik entschieden, "die uns die höchsten Strompreise in Europa für Bürger und Betriebe gebracht hat", kritisierte er. Wenn diese "planwirtschaftlichen" Instrumente nun im großen Maßstab auf alle Bereiche des Lebens ausgedehnt würden, werde die Bundesrepublik "kein leuchtendes Vorbild sein, sondern ein abschreckendes Beispiel", warnte der FDP-Chef.
Schon im Jahr 2030 ein klimaneutrales Deutschland zu haben, halte er für physikalisch-technisch nicht möglich, sagte Linder weiter. "Wir haben es ja jetzt schon nicht geschafft, die notwendigen Stromleitungen zu bauen, die wir für den jetzigen Stand erneuerbarer Energien haben."
Stattdessen müssten auf dem Weg zur Einhaltung der Klimaziele 2030 und 2050 "immer die tiefhängenden Früchte geerntet werden", forderte Lindner. "Das heißt, jetzt im Jahr 2019 müsste man doch Initiativen starten, um im Wärmebereich, also bei den Heizungen und bei der Gebäudesanierung, schnell voranzukommen." Der Wärmebereich als "schlafender Riese im Klimaschutz" müsse geweckt werden.
"Bevor wir jetzt also Flugreisen rationieren oder so verteuern, dass eine Mittelschichtsfamilie sich nicht mehr den Mallorca-Urlaub leisten kann, bevor wir also rigoros in bestimmten Bereichen herangehen, sollten wir doch erst einmal in den anderen Bereichen, wo noch gar nichts passiert ist, die ersten Schritte machen", sagte der FDP-Chef. Er sei davon überzeugt, "dass wenn wir unseren Erfindergeist wecken, wir in der Lage sind, klimaneutral zu leben und zu wirtschaften ohne diese harten Freiheitseinschränkungen". (mit AFP)