Gematik-Chef im Interview: "Viele Ärzte erkennen den Nutzen der elektronischen Patientenakte noch nicht"
Markus Leyck Dieken soll das Gesundheitswesen digitalisieren - und will im Januar die ePa einführen. Und er fordert mehr Patientendaten für Forschungszwecke.
Herr Leyck Dieken, das gesundheitspolitische Jahr 2020 sollte ursprünglich ganz im Zeichen der Digitalisierung stehen. Bekanntlich kam es dann anders. Wurde die Gematik durch die Corona-Krise zurückgeworfen?
Nein – im Gegenteil: Die Krise hat uns eher beflügelt. Bei den Produkten, an denen wir arbeiten, sind wir sogar produktiver geworden, weil unsere Entwickler und Tester mehr Ruhe dafür hatten. Ein Beispiel dafür ist das E-Rezept, das wir im Juli 2021 herausbringen werden. Hier kommen wir in der Entwicklung schneller voran, als wir geplant hatten. Ein weiterer sehr positiver Effekt ist die digitale Ausstattung. Wir haben viel in die Ausrüstung investiert, damit unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch von Zuhause aus datensicher arbeiten können.
Hat die Gematik jetzt also den digitalen Stand erreicht, den sie braucht? Sie sind ja mit dem Auftrag vor einem Jahr geholt worden, das halbstaatliche Unternehmen diesbezüglich fit zu machen.
In den vergangenen Monaten sind wir sehr weit vorangekommen, aber noch lange nicht am Ende des Weges. Für uns geht es darum, jetzt den großen Sprung aus der Vergangenheit in die Zukunft zu schaffen. Dabei hilft uns auch der Verband der Privaten Krankenversicherung, der als Gesellschafter gerade zur Gematik hinzugekommen ist. Das hat naheliegende Gründe: Die PKV will in die Digitalisierung des Gesundheitswesens auf dem neuesten Stand einsteigen.
Und was lief nicht so gut in den letzten Monaten während der Krise?
Leider sind zahlreiche Veranstaltungen vor Ort weggefallen, bei denen wir mit Fachpublikum – vor allem mit Ärzten – in den Dialog treten wollten. Viele Formate haben wir virtuell durchgeführt. Aber das ist natürlich bei weitem nicht zu vergleichen mit einem direkten Austausch von Angesicht zu Angesicht. Ich hoffe sehr, dass wir das bald nachholen können.
Gerade bei den Ärzten scheint es weit verbreitete Vorbehaltung gegen die Digitalisierung zu geben. Die Kassenärztlichen Bundesvereinigung monierte kürzlich bei Gesundheitsminister Jens Spahn, dass sie dadurch zusätzliche Bürokratie befürchte. Werden die Niedergelassenen mitmachen, wenn am 1. Januar 2021 die elektronischen Patientenakten (ePA) kommen? Die werden ja von den gesetzlichen Krankenversicherungen bereitgestellt, müssen aber von den Ärzten gefüllt werden.
Ich nehme die formulierten Bedenken ernst. Es muss jetzt darum gehen, den praktischen Nutzen der ePA deutlich zu machen. Bis jetzt erkennen den viele Ärzte aber noch nicht, oft auch deswegen, weil sie die ePA noch nicht im Praxisalltag erleben konnten. Wenn wir bei unseren Demonstrationen zeigen, wie gut sie funktioniert und welchen praktischen Nutzen sie bietet – zum Beispiel bei der Befundübermittlung an Kollegen -, ändert sich das meistens sehr schnell. Darüber hinaus tauschen wir uns unter anderem mit unseren Gesellschaftern über die Digitalisierung ärztlicher Prozesse aus, um diese zu verbessern.
Worum geht es da?
Zum Beispiel werden Dokumente, die Ärzte nutzen, so weit wie möglich automatisiert ausgefüllt. Wir haben die ärztlichen Gesellschafter darum gebeten uns aufzuzeigen, was sie sich wünschen. Wir wollen mit der ePA vor allem einen praktischen Nutzen stiften, um die Akzeptanz zu erhöhen.
Zuletzt war die Gematik immer wieder im Gespräch, weil es erhebliche Probleme mit den Konnektoren gab, mit denen die Praxen an die digitale Infrastruktur angebunden sind und ohne die die ePA nicht funktioniert. Über Wochen gab es in 80.000 Praxen Probleme, so dass nicht mal Stammdaten der Versicherten bearbeitet werden konnten. Ist das Problem jetzt aus der Welt?
Ja, ist es. Die Störung nehmen wir zum Anlass, Veränderungen auf vielen Ebenen herbeizuführen. Dabei geht es beispielweise um die Kontroll- und Zugriffsrechte bei den von uns beauftragten Konnektor-Anbietern und IT-Dienstleistern. Diese hatte die Gematik bislang nicht. Da die Konnektoren bislang letztendlich unter Kontrolle der Ärzte sind, bedeutet das im Umkehrschluss, dass sie bei technischen Problemen an deren Beseitigung mitwirken müssen. Doch kein Arzt muss IT-Experte sein. Deshalb sollten Praxisinhaber andere damit beauftragen können, um die Sicherheit der Konnektoren und ihre Wartung zu gewährleisten.
Wie wichtig ist für Sie eigentlich, dass Jens Spahn Gesundheitsminister ist? Er ist digital-euphorisch, hat Sie deswegen zur Gematik geholt und zuvor noch eine 51-Prozent-Mehrheit des Ministeriums ins Gesetz geschrieben. Können Sie ohne ihn im Rücken ihre Pläne überhaupt umsetzen?
Ich habe das nie als unabdingbaren Faktor gesehen. Aber natürlich ist es gut, ihn als Minister zu haben. Keiner vor ihm hat so viele Digitalisierungsgesetze auf den Weg gebracht. Was die 51-Prozent-Regelung angeht: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens sollte nicht allein von Partikularinteressen der Gesellschafter bestimmt sein. Für uns werden zukünftig die im demokratischen Raum des Bundestages entschiedenen Vorgaben die Orientierung sein, denn digitale Gesundheitsanwendungen sind damit am besten legitimiert. Die Gesellschafter bringen dazu ihre Expertise ein.
Im Juli begann die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, bei der Spahn unter anderem den europäischen Gesundheitsdatenraum voranbringen will, der es erlaubt, Gesundheitsdaten und Patientenakten EU-weit auszutauschen. Das ist relevant für Touristen, aber auch die Forschung mit Gesundheitsdaten. Wie weit sind Sie hier?
Wir haben mit den europäischen Partnern inzwischen einen konkreten 7-Punkte-Plan, was wir im Rahmen der Präsidentschaft erreichen wollen. Dazu gehört zum Beispiel, den „National Contact Point“ als deutschen Anknüpfungspunkt an den europäische Datenraum bis 2023 aufzubauen. Nötig sind diese Contact Points, um unter anderem E-Rezepte von einem Land in das andere senden zu können. Außerdem arbeitet die Gematik mit der EU-Kommission an der Standardisierung des europäischen „Patient Summary“, also den grenzüberschreitenden elektronischen Patientenbriefen. Im November werden wir dazu erste Ergebnisse skizzieren können. Der europäische Datenraum ist ein Gewinn für Europa, aber auch für Patienten.
Auch Datenspenden sollen im Gesundheits-Datenraum ausgetauscht werden, laut Plan werden solche Spenden über die ePA ab 2023 möglich sein. Wie können die diesbezüglich eher ängstlichen Deutschen davon überzeugt werden, Daten zu spenden, um damit der medizinischen Forschung zu helfen?
Bei der Corona-Warn-App hat man gesehen, wie Vertrauen gewonnen werden kann: Mit größtmöglicher Transparenz darüber, wie die Anwendung funktioniert, was sie kann und wie Daten geschützt werden. Ich bin überzeugt, dass immer mehr Menschen verstehen, dass Medizin limitiert ist, wenn Daten fehlen – bei der momentanen Entwicklung eines Corona-Impfstoffs wird das nur allzu deutlich.
Ihre Forderung, die gespendeten Daten auch der pharmazeutischen Industrie zu überlassen, wurde im Patientendaten-Schutz-Gesetz nicht berücksichtigt, es dürfen nur Forschungseinrichtungen darauf zugreifen. Ist das ein Fehler?
Ich sehe das in der Tat anders. Die Entwicklung eines Corona-Impfstoffs ist ein gutes Beispiel dafür, welche elementare Rolle die Pharma-Industrie bei der beschleunigten Forschung und Entwicklung spielt. Damit wird offensichtlich, dass Forschung in Wissenschaft und Industrie erst die Lösung bringt. Gleichzeitig muss ausgeschlossen sein, dass nicht-forschende Unternehmen Daten rein kommerziell nutzen können.
Herr Leyck Dieken, wie zuversichtlich sind Sie, dass es am 1. Januar einen Run auf die ePA der einzelnen Kassen geben wird?
Ich bin sicher, dass das Interesse von Tag zu Tag steigen wird, sobald die ePA tatsächlich verfügbar ist. Die Menschen werden die ePA als Bereicherung für ihre Gesundheitsversorgung erleben. Noch schneller wird es beim E-Rezept gehen: Der Nutzen dieser Anwendung wird jedem sofort klar.
Die Gematik (Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte) wurde im Januar 2005 von den Spitzenorganisationen des deutschen Gesundheitswesens gegründet. Sie soll die Infrastruktur des Gesundheitswesens weiterentwickeln. 51 Prozent der Anteile werden vom Bundesgesundheitsministerium gehalten. Markus Leyck Dieken leitet Gematik seit einem Jahr als Geschäftsführer.