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Stau gibt es an einem normalen Tag in Dover auch ohne No-Deal-Brexit. Bei neuen Zollformalitäten droht der Kollaps.
© Daniel Leal-Olivas/AFP

Prognosen für den Fall eines chaotischen Brexits: Verschlusssache Goldammer

Ein britischer Regierungsbericht warnt vor dem No-Deal-Brexit. Die Folgen für Wirtschaft und Verbraucher wären katastrophal.

Wie teuer käme Großbritannien ein chaotischer Brexit ohne Austrittsvereinbarung zu stehen? Dazu tobte auch am Montag der Streit unter Ökonomen und Politikern in London. Während Mitglieder der Regierung des konservativen Premiers Boris Johnson die Bedeutung eines in die Öffentlichkeit gelangten geheimen Katastrophen-Dossiers herunterzuspielen versuchten, nannte die Chefin des Unternehmerverbandes CBI, Carolyn Fairbairn, die Annahmen des „Operation Goldammer“ genannten Dokuments realistisch. „Das kommt mir plausibel vor“, sagte Fairbairn und richtete einen Appell an die Regierung: „Eine Vereinbarung mit der EU muss die Priorität Nummer Eins sein.“

Das umfassende Dossier skizziert ein düsteres Bild für die Zeit nach einem No-deal-Brexit Ende Oktober. An den Häfen am Ärmelkanal würden sich die Lastwagen stauen, weil bis zu 85 Prozent der Trucker die nötigen Zollpapiere nicht bei sich führen. Zuckerkranken und GrippeGefährdeten müssten veraltete Medikamente gespritzt werden. Überwiegend vom Kontinent sowie aus Irland importierte Lebensmittel wie Milch, Joghurt und Obst würden über Nacht teurer. Die angekündigte Senkung von Importzöllen auf null würde die Profitabilität zweier wichtiger Raffinerien bedrohen, diese wären von der Schließung bedroht. Polizei und Armee sähen sich mit massiven Unruhen konfrontiert, nicht zuletzt an der inneririschen Grenze, deren Offenhaltung London eigentlich versprochen hat. Legt man die Regierungsanalyse zugrunde, wird der Chaos-Brexit besonders starke Auswirkungen auf Regionen wie den englischen Nordwesten und den Großraum Birmingham haben. Die am härtesten betroffenen Branchen sind Chemie, Automobilbau, Einzelhandel und Nahrungsmittel.

Schaf- und Rinderzüchter – allein aus Wales gehen jährlich Produkte im Wert von mehr als 6,6 Milliarden Euro in die EU – wären über Nacht ihrer Existenzgrundlage beraubt, weil die EU auf Importe aus Drittländern Abgaben von 40 Prozent erhebt. Ein vertragsloser Crash aus der EU hätte also „katastrophale Folgen“, fürchtet Helen Roberts vom walisischen Schafzüchterverband. Im für Landwirtschaft zuständigen Umweltministerium gibt es bereits Pläne für die Notschlachtung von Hunderttausenden von Tieren.

Die Verschlusssache Goldammer stammt aus dem Kabinettsbüro, das seit Johnsons Amtsübernahme vor knapp vier Wochen federführend für die Brexit-Planung zuständig ist. Der verantwortliche Minister Michael Gove zog die Echtheit der in der „Sunday Times“ veröffentlichten Auszüge nicht in Zweifel, sprach aber von einem „worst case“-Szenario. Genau dies bestreiten die anonymen Quellen der als konservativ geltenden Zeitung, die 2016 für den Brexit eingetreten war: Es handele sich um „wahrscheinliche und plausible“ Annahmen.

Planungen für den Fall Goldammer gibt es bereits seit vergangenem Jahr, als die damalige Regierung von Johnsons Vorgängerin Theresa May noch den geordneten Austritt aus der EU verfolgte. Im vergangenen Winter war von der Rekrutierung von zusätzlich 5000 Beamten die Rede, um die Notfallpläne umzusetzen. Dem Brexit-Ministerium zufolge würde über die kommenden 15 Jahre das Wachstum um bis zu neun Prozent geringer ausfallen als bei normalen politischen Verhältnissen.

Probleme der Weltwirtschaft machen auch vor Großbritannien nicht Halt

Unabhängig vom Brexit läuft es in der siebtgrößten Volkswirtschaft der Welt schon derzeit nicht mehr rund. Im zweiten Quartal 2019, teilte das nationale Statistikamt mit, sei Großbritanniens Wirtschaftsleistung um 0,2 Prozent zurückgegangen. Bereits zuvor war das Pfund gegenüber Dollar und Euro auf einen Zehnjahres-Tiefststand gefallen.

Konservative Ökonomen machten die Probleme der Weltwirtschaft für die leichte Schrumpfung auf der Insel verantwortlich. Tatsächlich unterscheidet sich Großbritannien kaum vom größten EU-Mitglied Deutschland, wo das Bruttoinlandsprodukt um 0,1 Prozent zurückging. Ob nun globale Faktoren oder der Brexit die entscheidende Ursache darstellen – jedenfalls sei eine Rezession „wahrscheinlicher als 50 Prozent“, glaubt Nina Skero vom Thinktank Cebr.

Schon jetzt spüren Unternehmen zunehmende Skepsis von Investoren; der Bank of England zufolge hat zudem die Wirtschaftsleistung unter der Unsicherheit gelitten. Im ersten Quartal 2019 wuchs die Wirtschaft noch um 0,5 Prozent, wohl nicht zuletzt wegen der Vorratshaltung vieler Unternehmen vor dem eigentlich geplanten Austrittstermin Ende März. Am Finanzplatz City of London überschlagen sich die Analysten mit düsteren Prognosen zum britischen Pfund. Einer nach eigenen Angaben konservativen Prognose der US-Investmentbank JPMorgan zufolge würde sich die britische Währung im Fall eines No Deal bei 1,15 Dollar einpendeln, möglich sei aber ein weiterer zehnprozentiger Verfall. Vor dem Brexit-Referendum im Juni 2016 erhielt man für ein Pfund immerhin 1,50 Dollar, Ende vergangener Woche stand es bei 1,21 Dollar.

Vom Arbeitsmarkt gab es zuletzt erfreuliche Nachrichten. Die Beschäftigungsrate liegt bei der Rekordhöhe von 76,1 Prozent; die Arbeitslosigkeit stieg ganz leicht an, bewegt sich aber mit 3,9 Prozent immer noch auf einem Tiefststand seit den 1970er Jahren. Bruttolöhne stiegen im zweiten Quartal 2019 um 3,9 Prozent an; sie lagen damit auf dem höchsten Stand seit elf Jahren und deutlich über der Inflationsrate von 2,1 Prozent. Allerdings warnen Ökonomen: „Die Nachfrage nach Arbeitskräften wird geringer, weil sich die Wirtschaft insgesamt abkühlt“, sagt Andrew Wishart von der Beratungsfirma Capital Economics. Stand unter seiner Vorgängerin Theresa May noch die eiserne Sparpolitik im Vordergrund, hat Johnson die Austerität beerdigt. Um die Folgen eines Crashs abzufedern, hat er sein eigenes kleines Mini-Konjunkturprogramm versprochen. Mit 1,8 Milliarden Pfund sollen 20 Kliniken modernisiert oder ganz ersetzt werden. 20000 neue Beamte sollen die Polizei verstärken. Besonders stark betroffene Branchen dürfen auf Hilfe durch einen Regierungsfonds hoffen.

Zu Wochenbeginn erholte sich das Pfund wieder ein wenig. Als Grund gaben Trader an, die Pläne des Oppositionsführers Jeremy Corbyn für eine Übergangsregierung hätten die No-Deal-Bedrohung verringert. Die Aussicht auf einen Uralt-Sozialisten in der Downing Street als Tonic für Erz-Kapitalisten? In Großbritannien ist nichts mehr wie es war.

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