Arbeitskampf bei Amazon: Verdi sieht Online-Händler nicht als Logistikunternehmen
Bei Amazon legen Beschäftigte die Arbeit nieder, weil sie einen eigenen Tarifvertrag erstreiten wollen. Der Online-Händler ist nicht interessiert – und expandiert in Brandenburg.
Stefan Dirkes freut sich auf die Mehrarbeit. In den kommenden Monaten hofft der Geschäftsführer der Arbeitsagentur Neuruppin, die Zahl der Arbeitslosen in seinem Bezirk um einige hundert zusätzlich reduzieren zu können. Im brandenburgischen Brieselang richtet der Internet-Versandhändler Amazon sein bundesweit neuntes Logistikzentrum ein. Bis zu 3000 Menschen sollen hier in Stoßzeiten wie in den Monaten vor Weihnachten arbeiten. Die Stammbelegschaft wird bei rund 1000 Mitarbeitern liegen. Die Arbeitsagentur übernimmt die Suche für den Versandhändler. Derzeit sind vor allem Führungskräfte gefragt, die den Aufbau des Standorts vorbereiten: Personaler, Trainer und leitende Mitarbeiter für das Lager, sagt Dirkes. „Ab September kommen dann die übrigen Mitarbeiter hinzu.“ Der Stellenaufbau werde wegen des dann bevorstehenden Weihnachtsgeschäfts recht schnell gehen.
Wie in allen übrigen deutschen Logistikzentren des Online-Händlers werden die Mitarbeiter nicht nach dem Tarifvertrag für Einzel- und Versandhandel bezahlt. Stattdessen gibt es in Brieselang für einfache Arbeiter 9,55 Euro in der Stunde, plus Bonus. Nach dem Willen von Verdi soll sich das langfristig ändern. Bereits im Juni hatte die Gewerkschaft mit Streiks an den Standorten Bad Hersfeld, wo es zwei Versandzentren gibt, und Leipzig versucht, Druck auf Amazon auszuüben. Auch in dieser Woche legten mehrere hundert Mitarbeiter an beiden Standorten die Arbeit nieder - unter anderem an diesem Freitag.
Amazon sieht Versandzentren als Logistikunternehmen
Im Kern geht es um einen Tariflohn, der sich am Einzel- und Versandhandel orientiert, um Weihnachts- und Urlaubsgeld und Nachtzuschläge bereits ab 20 Uhr. Bis zu einem Drittel weniger verdienten die Amazon-Beschäftigten verglichen mit Angestellten anderer Versandhändler, kritisiert Verdi-Chef Frank Bsirske. In Brieselang liegt der Stundenlohn beispielsweise knapp einen Euro unter dem in Brandenburg gültigen Tarif im Versandhandel.
Amazon selbst zieht die Zahlen nicht ausdrücklich in Zweifel. Der US-Konzern argumentiert jedoch damit, seine Versandzentren seien „Logistikunternehmen, die Kundenbestellungen ausführen“ – und damit weder Einzel- noch Versandhandel. Gemessen an dem, was in der Logistikbranche gezahlt werde, lägen die Amazon-Mitarbeiter mit einem Stundenlohn von mindestens 9,30 Euro (zum Beispiel in Leipzig) sogar am oberen Ende.
Verdi sieht das anders. Die Mitarbeiter in den Zentren machten zum Beispiel Produktfotos und bearbeiteten Reklamationen telefonisch. Das seien klassische Aufgaben eines Versandhändlers, heißt es aus der Bundeszentrale der Gewerkschaft in Berlin. „Außerdem verpackt Amazon in den Zentren die eigene Ware“, sagt Jörg Lauenroth-Mago, Verdi-Sprecher in Leipzig. Echte Logistikunternehmen hingegen verpackten Ware für andere Unternehmen. Man müsse die gesamte Wertschöpfungskette eines Unternehmens von der Bestellung bis zur Auslieferung betrachten und dürfe sie nicht – wie Amazon – in Einzelteile zerlegen.
Versandhandel beobachtet Amazon mit Argwohn
Obwohl sich Amazon nicht als Versandhändler versteht, verfolgt die Branche den Tarifstreit mit Interesse. Bereits im Frühjahr, als eine ARD-Dokumentation Amazon vorwarf, schlecht mit Leiharbeitern umgegangen zu sein, fürchtete der Versandhandel um seinen Ruf. Nun geht es um die Bezahlung der Festangestellten. „Bei Verfehlungen eines einzelnen großen Unternehmens gerät regelmäßig auch die gesamte dahinterstehende Branche in den Fokus“, sagt Sebastian Schulz. Er ist beim Versandhandelsverband BVH zuständig für die politische Kommunikation. „Auch der BVH und seine Mitgliedsunternehmen distanzieren sich deshalb nicht selten von der Lohn- und Beschäftigungspolitik bei Amazon“, betont er.
Verdi ist mit dem Verlauf des Arbeitskampfes bislang zufrieden. Die Proteste hätten eine „gute und sinnvolle Basis“, sagt Lauenroth-Mago. Damit meint er auch die wachsende Zahl der Gewerkschaftsmitglieder unter den Mitarbeitern. Rund 650 sind es derzeit am Standort Leipzig bei insgesamt 2000 Beschäftigten. In Brieselang ist die Debatte um höhere Löhne weit entfernt. Amazon liegt im Soll: Die Landesregierung hat in ihr Vergabegesetz einen Mindestlohn von 8,50 Euro geschrieben. Und für eine Region mit 28 000 Arbeitslosen sind mindestens 1000 zusätzliche Stellen nicht gerade wenig.