Atomausstieg im Schiedsgericht-TV: Vattenfalls smarte Anwälte zerpflücken Merkels Moratorium
Auftakt zur mündlichen Verhandlung von Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland in Washington: Die Stimmen waren milde, die Argumente und die Rückfragen des Schlichters um so schärfer.
Eine Stilkritik vorweg: Für die extrem starre Kameraführung wird es keinen Oscar geben. Jede Folge der Gerichtsshows von Richterin Barbara Salesch bis Alexander Hold waren wohl abwechslungsreicher und Hundert Mal emotionaler als der Auftakt der mündlichen Verhandlung zum Schiedsverfahren des Energiekonzerns Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland beim Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID) der Weltbank-Gruppe. Er wurde mit vierstündiger Verzögerung in der Nacht zu Dienstag ausgestrahlt. Auf diesen Puffer hatten sich beide Parteien verständigt, um gegebenenfalls zu sensible Inhalte herausschneiden zu können.
Spannend und aufschlussreich war die Verhandlung aus dem Gerichtssaal der US-Hauptstadt Washington dennoch. Immerhin geht es um etwas, das viele Tausend Deutsche vor fünf Jahren auf die Straße getrieben hatte - und womöglich das Wahlverhalten von Millionen Bürgern beeinflusst hat: Den Atomausstieg nach der Atomkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011. Die weiteren Sitzungen werden ab Dienstag (11. Oktober 2016) wochentäglich ab 19 Uhr MESZ online übertragen. Angesetzt sind zehn Verhandlungstage bis Freitag, den 21. Oktober. Ein Urteil wird nicht vor 2017 erwartet. (Az. ARB/12/12)
Der schwedische Staatskonzern fordert 4,7 Milliarden Euro Schadenersatz von der Bundesregierung für das sogenannte Atom-Moratorium, mit dem die Bundesregierung unmittelbar nach der Katastrophe in Japan die sieben ältesten angeschlossenen Kernkraftwerke hierzulande für eine dreimonatige Sicherheitsüberprüfung von Netz nehmen ließ. Es folgte ein Ausstiegsplan für alle 17 Meiler. Den Entscheidungen fielen auch die beiden norddeutschen Kraftwerke in Krümmel und Brunsbüttel zum Opfer.
Das Akw Krümmel war wegen diverser Pannen schon vorher vom Netz getrennt gewesen. Vattenfall reichte im Mai 2012 gleichwohl Klage bei dem internationalen Schiedsgericht ein mit der Begründung, dem Unternehmen seien Einnahmen aus dem Stromverkauf entgangen - und dem schwedischen Staat Steuereinnahmen.
Der Richter stellt die Gretchenfrage
Der Auftakt am Montag gehörte den Vattenfall-Anwälten, die ihre Klage vortrugen. Die schlanken Herren mit Brillen referierten sitzend, nur einer stehend, in fast einschläfernd ruhigem Ton die Geschichte aus ihrer Sicht: Punkt für Punkt, Tag für Tag. Wer hat wann was besprochen oder beschlossen? Bundeskanzlerin, Bundesrat, Bundestag, Ethikkommission. Ein Argument: Merkel habe noch am 14. März 2011 die deutschen Akw für absolut sicher erklärt. Vattenfalls Vertreter stützten sich auf öffentliche Reden, Ausschussprotokolle des Bundestages, Zeitungsartikel, interne Behördenvermerke, alle ins Englische übersetzt.
Ein Schlüsselsatz fiel nach zwei Stunden: „Wir können nicht akzeptieren, dass Deutschland deutsches Recht aus dem Atomkonsens über das internationale Recht stellt“, erklärt einer der Anwälte. Die Bundesrepublik verletzte Vereinbarungen, die auf Basis von internationalem Recht getroffen worden seien.
Der Richter, besser Schlichter, und ein Besitzer unterbrachen nur für wenige Nachfragen. Die allerdings brachten die Klägerseite ins Schlingern, sodass sie mehrfach darum baten, die Antworten nachreichen zu dürfen. Warum beziehen sich die Kläger bei der Berechnung ihrer Schadensumme auf einen Zeitpunkt, der ein halbes Jahr vor dem Moratorium liegt? Und die Gretchenfrage des Richters: „Warum sollte eine Regierung ihre Politik angesichts aktueller Ereignisse nicht ändern dürfen?“
Die Vertretung der Bundesregierung kam vor der einstündigen Mittagspause (bedingt durch verzögerte Übertragung und Zeitverschiebung nach Mitternacht deutscher Zeit) nur kurz zu Wort. Die Vertreterin stellte einen Widerspruch bei den Zahlen fest, den die Kläger an die Wand geworfen hatte und bemängelte, dass die Vattenfall-Leute trotz anderslautender Zusagen nicht rechtzeitig Dokumente übermittelt hätten. „Ich glaube, wir haben hier einen Punkt“.
Der Eindruck nach den ersten Stunden: Die Videoübertragung trägt dazu bei, ein Stück Transparenz in diesen wegweisenden Streitfall zu bringen. Allerdings: Unabhängige Beobachter, Journalisten etwa, haben keinen Zutritt zum Verhandlungssaal. Die zeitlich verzögerte Ausstrahlung ermöglicht es den Parteien zudem, ganze heikle Passagen aus dem Video zu löschen. Um substanzielle Kritik am Verfahren zu ermöglichen, müsste die Sitzung ganz öffentlich sein. Und wegen fehlender Schrift-Einblendungen ist es für Beobachter nicht ohne weiteres nachvollziehbar, wer gerade spricht.
Würden diese Mängel abgestellt, hätten die Befürworter der Freihandelsabkommen TTIP und Ceta ein gutes Argument im Dialog mit den vielen Kritikern, die eine größere Rolle derartiger internationaler Schiedsgerichte kategorisch ablehnen.