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Widerspruch. Die Konsumlaune der Deutschen ist gut, die Wirtschaft wächst – trotzdem droht vielen die Armut.
© AFP

Konjunktur in Deutschland: Trotz Wachstum steigt die Armut

Die Konsumlaune der Deutschen ist gut, viele rechnen mit steigenden Einkommen. Gleichzeitig steigt aber das Armutsrisiko. Wie passt das zusammen?

Deutschland ist ein Land der zwei Welten. Auf der einen Seite ist da eine Welt, in der die Menschen bester Kauflaune sind. In der sehr viele Deutsche einen Job haben, ihre Bereitschaft zur Anschaffung teurer Güter wie Möbel und Autos hoch ist. In der viele Menschen damit rechnen, dass ihre Einkommen weiter steigen werden. In der ein Abteilungsleiter in der Automobilindustrie schon jetzt 120 000 Euro im Jahr verdient, ein junger Manager mit 60 000 Euro jährlich rechnen kann. Es ist eine Welt des Wohlstands – die so gar nicht zu der anderen Welt passen will, der Welt der Armut. In der nimmt das Armutsrisiko trotz guter Konjunktur nicht ab. In der sind erneut so viele Jugendliche von Armut bedroht wie nie. In der leben eine Million Kinder in Haushalten, in denen die Eltern trotz Arbeit Hartz IV beziehen. Und doch gehören beide Welten zu Deutschland.

Kurz vor der Bundestagswahl ist die Bundesrepublik sowohl von Wohlstand geprägt wie von Armut. Dazu passen auch die Wahlversprechen der großen Parteien. „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ steht die CDU. „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ fordert die SPD.

Die Armut stagniert, obwohl der Wohlstand wächst

Doch wie konnte es so weit kommen? Woran liegt es, dass die Wirtschaft wächst, die Konjunktur boomt – und der Wohlstand doch an vielen vorbeigeht? Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erklärt sich das vor allem mit der Entwicklung am Arbeitsmarkt. „Zwar haben wir eine deutliche Abnahme der Arbeitslosigkeit“, sagt er, „aber es ist weiterhin so, dass wir im Arbeitsmarkt eine sehr hohe Ungleichheit haben.“ Einerseits haben heute also durchaus sehr viel mehr Menschen einen Job als noch vor einigen Jahren – andererseits werden viele dafür aber nur schlecht bezahlt. Manchen reicht eine Arbeitsstelle schlicht nicht, um über die Runden zu kommen. 2,7 Millionen Angestellte in Deutschland haben noch einen Zweitjob, oft weil es ohne gar nicht geht.

Dass Armut und Wohlstand gleichermaßen wachsen können, liegt vor allem an den wachsenden Einkommensunterschieden. Zu diesem Schluss kommt auch das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Das rechnete gerade vor: Bei den höheren Einkommensschichten gab es zwischen 1991 und 2014 starke Zugewinne, während die unteren Einkommen eher stagnierten.

Vor allem im Dienstleistungssektor sind die Gehälter gering

Besonders stark merken das Angestellte der Dienstleistungsindustrie, die trotz Vollzeitstelle oft nur schlecht verdienen. Wer zum Beispiel im Zimmerservice oder als Küchenhilfe arbeitet, bekommt im Schnitt lediglich knapp 20.000 Euro im Jahr, zeigt eine aktuelle Auswertung des Portals Gehalt.de. Friseure kommen lediglich auf 21-000, Berufskraftfahrer auf 27.000 Euro im Jahr. Gut geht es dagegen zum Beispiel all jenen, die in der Automobilindustrie arbeiten. Dort steigen die Gehälter derzeit um 2,8 Prozent jährlich und damit stärker als im Gesamtmarkt, zeigt eine Analyse der Beratung Korn Ferry. Die Hersteller würden zunehmend mit Tech- und IT-Unternehmen um Bewerber buhlen. Das treibe die Gehaltsspirale in der Branche nach oben, heißt es.

Berlin hat davon wenig. Die Automobilindustrie ist in der Stadt schwach, die Dienstleistungsindustrie mit ihren schlecht bezahlten Jobs dafür umso stärker ausgeprägt. Auch deshalb gilt in der Hauptstadt laut aktuellen Zahlen noch immer jeder Fünfte als armutsgefährdet. Unter den Bundesländern stehen nur Bremen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern noch schlechter da, zeigt die Auswertung des Statistischen Bundesamts. Im Automobilland Baden-Württemberg ist das Armutsrisiko dagegen bundesweit am geringsten.

Lösungsvorschläge gibt es viele

Ändern dürfte sich an diesem Gefälle so schnell wenig, meint DIW-Experte Grabka. Die Daten würden eher darauf hindeuten, dass die Einkommensunterschiede und das Armutsrisiko weiter zunehmen dürften – trotz guter Konjunktur. Grabka sieht deshalb die Politiker in der Pflicht. So meint er, die geringfügige Beschäftigung müsse zurückgedrängt werden, zum Beispiel indem man den Mindestlohn weiter erhöht. Handlungsbedarf sieht er auch bei den Alleinerziehenden, unter denen das Armutsrisiko besonders hoch ist.

Der Deutsche Kinderschutzbund wünscht sich deshalb eine „Kindergrundsicherung“ in Höhe von 573 Euro monatlich pro Kind. Das Deutsche Kinderhilfswerk meint, es müsse stärker in Bildung und Integration der nach Deutschland zugewanderten Kinder und Jugendlichen investiert werden. Der Paritätische Wohlfahrtsverband wünscht sich von der neuen Bundesregierung einen „Masterplan“ zur Bekämpfung der Armut.

Diese Forderungen gehören ebenso zu Deutschland wie die guten Zahlen vom GfK. Das Konsumforschungsinstitut misst regelmäßig, wie kauffreudig die Deutschen sind, und verkündet: Die Konsumneigung der Bundesbürger sei „weiterhin auf einem stabilen Wachstumskurs“. Viele rechnen laut GfK-Daten mit steigenden Gehältern: Die Einkommenserwartung eile „weiter von Rekord zu Rekord“.

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