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40 mobile Testteams waren unterwegs, um zu prüfen, ob Angestellte der Firma Tönnies die Quarantäne einhalten.
© dpa

Die Kritik an der Fleischindustrie wächst: „Tönnies droht zum zweiten Ischgl zu werden“

Trotz Corona-Ausbruch könnten Tönnies-Beschäftigte aus Rheda-Wiedenbrück woanders eingesetzt werden. Ein Kreis hat bereits ein Zutrittsverbot verhängt.

Die politische Aufarbeitung der Corona-Infektionswelle rund um den Tönnies-Schlachthof in Rheda-Wiedenbrück setzt sich fort. „Geiz und Gier haben sich zur organisierten Verantwortungslosigkeit verbunden“, schimpfte Uwe Schummer, Chef der Arbeitnehmergruppe der Union, am Montag. „Tönnies droht zum zweiten Ischgl zu werden – eine europaweite Virenschleuder.“

Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), die seit Jahren Arbeits- und Lebensbedingungen anprangert, geht davon aus, dass osteuropäische Werkvertragsarbeiter aus Westfalen zurück in ihre Heimatländer gereist sind. Die meisten dieser Arbeitnehmer stammen aus Rumänien, Bulgarien und Polen.

Werkvertragsarbeiter reisen durch die Gegend

Aber nicht nur das: Offenkundig gibt es Versuche, Beschäftigte aus dem westfälischen Tönnies-Schlachthof an anderen Tönnies-Standorten unterzubringen. Im sachsen-anhaltinischen Weißenfels hat der Burgenlandkreis deshalb ein Zutrittsverbot verhängt: Tönnies-Beschäftigte aus Rheda-Wiedenbrück dürfen bis zum 3. Juli nicht den Schlachthof in Weißenfels betreten.

Weitere Tönnies-Betriebe in Niedersachsen kommen gleichfalls in Betracht, wenn es um den Einsatz von Schlachtern und Zerlegern aus Rheda-Wiedenbrück geht, die jetzt mindestens für zwei Wochen ohne Arbeit sind. Die Landesregierung in Hannover erwägt deshalb, die Belegschaften aller Tönnies-Betriebe in Niedersachsen testen zu lassen.

Tönnies sollte die Adressen kennen

Das Herumkutschieren von Werkvertragsarbeitnehmern ist in der Branche üblich. Die Sub-Unternehmen des Schlachthofbetreibers setzen ihre Leute dort ein, wo sie gebraucht werden. In der Regel weiß das auch der Schlachthofbetreiber, der mit diesem System gut lebt. Diverse Regulierungsversuche und Selbstverpflichtungen haben die Fleischbranche nur temporär aus den Schlagzeilen gebracht und nicht viel verändert.

Gegenstand einer solchen Verpflichtung aus 2015 war etwa, dass der Schlachthofbetreiber Kenntnis haben muss über Wohnort und Wohnbedingungen seiner Werkvertragsarbeitnehmer. Tönnies hatte die Verpflichtung damals unterschrieben – und dennoch Ende vergangener Woche nicht die Adressen der Werkvertragsarbeiter parat, sodass sich die Behörden per Durchsuchungsbeschluss die Daten im Tönnies-Werk selbst besorgten, um dann anschließend die Quarantäne durchsetzen zu können.

Mitte Mai waren die Tests noch negativ

Der Kreis Gütersloh hatte verfügt, dass alle auf dem Betriebsgelände tätigen Personen und Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften wohnen, sich bis zum 2. Juli in häusliche Quarantäne begeben müssen. In dem größten europäischen Schlachthof in Rheda-Wiedenbrück waren bis Montag 6650 Personen auf Corona getestet worden, 1553 davon positiv. Bereits Mitte Mai hatte die Landesregierung in Düsseldorf den Kreis Gütersloh angewiesen, alle Beschäftigten in Rheda-Wiedenbrück zu testen.

Der Anteil der mit dem Coronavirus infizierten war damals den Angaben des Kreises zufolge erstaunlich gering. Zuvor hatte die Landesregierung einen Schlachthof von Westfleisch in Coesfeld für knapp zwei Wochen geschlossen, nachdem es dort einige hundert Infizierte gegeben hatte.

Clemens Tönnies ist Chef des größten Schlachthofs in Europa.
Clemens Tönnies ist Chef des größten Schlachthofs in Europa.
© imago images/Noah Wedel

Ursächlich für die Infektionen waren vor allem die Wohnverhältnisse der Werkvertragsarbeitnehmer. Die Verhältnisse unterscheiden sich indes kaum von Schlachthofbetreiber zu Schlachthofbetreiber. Und da Tönnies nach eigenen Angaben mit mindestens 50 Prozent Werkvertragsarbeitern schlachtet und zerlegt, war die niedrige Zahl der Infizierten Mitte Mai in der Branche erstaunt registriert worden. Tönnies hatte sogar dem Konkurrenten Westfleisch geholfen und damals Schweine zur Schlachtung angenommen, die eigentlich für Coesfeld vorgesehen waren. „Aktuell hat Westfleisch Tönnies Unterstützung angeboten“, heißt es nun auf der anderen Seite.

Jeden Tag 20 000 Schweine

Die kann Tönnies gebrauchen. In Rheda-Wiedenbrück werden gut 20.000 Schweine geschlachtet – jeden Tag. Diese Tiere, die von ein paar tausend Schweinemastbetrieben angeliefert werden, müssen nun anderswo getötet und zerschnitten werden. Allein im Kreis Gütersloh gibt es 16 Schlachthöfe, darunter fünf große, die nun versuchen werden, die Schweinemengen zu bewältigen.

Mobile Testteams sind im Kreis Gütersloh unterwegs, um Abstriche von Tönnies-Beschäftigten sowie von deren Angehörigen zu nehmen.
Mobile Testteams sind im Kreis Gütersloh unterwegs, um Abstriche von Tönnies-Beschäftigten sowie von deren Angehörigen zu nehmen.
© AFP

Schweine gibt es jedenfalls genug; die Verbraucher müssen keine Sorgen haben, in den nächsten Wochen vor leeren Fleischtheken zu stehen. Tönnies produziert in Rheda-Wiedenbrück vor allem für den SB-Bereich der Discounter – also abgepackte Fleischstücke für Aldi und Lidl. Tim Koch, Analyst bei der Agrarmarkt Informations-Gesellschaft (AMI) erwartet keine größeren Preisausschläge, wenn der riesige Schlachthof nur zwei Wochen geschlossen bleiben sollte.

Schweine dürfen nicht fett werden

Bis zu zwei Wochen ist es auch möglich, die Tiere länger im Stall zu halten. Doch das hat Nachteile. Die Schweine dürfen nicht zu fett werden, die Verbraucher möchten das Kotelett mager. Das normale Schlachtgewicht des ausgenommenen Schweins beträgt 106 Kilogramm. Wenn dieser Wert überschritten wird, zahlen die Schlachthöfe weniger als die 1,66 Euro, die das Kilo Schlachtfleisch aktuell kostet.

In der Coesfeld-Krise zeigte sich zumindest Westfleisch im Mai kulant und erhöhte das Gewicht, bis zu dem es keine Preisabschläge gab, auf 112 Kilo. Ein andere Aspekt der verlängerten Stallzeit betrifft die Tierhaltung respektive den Tierschutz: es dürfen nicht zu viele Schweine im Stall stehen. Deshalb wird in der Branche erwartet, dass die Bauern jetzt versuchen, so viele Schweine wie möglich zur Schlachtung zu bringen, da niemand weiß, wie lange Rheda-Wiedenbrück geschlossen bleibt und ob weitere Schlachthöfe von Corona betroffen sind.

Das ganze Theater um Tierhaltung, Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnisse dürfte den Trend weg vom Schwein beschleunigen. Mit 40,2 Kilogramm verzehrte der Durchschnittsverbraucher 2010 so viel Schwein wie noch nie. Seitdem sank der Verbrauch stetig auf zuletzt 34,1 Kilo (2019).

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