Urban Farming: Tomaten und Radieschen sprießen in Berlin
Auf dem Tempelhofer Feld oder in den Prinzessinnengärten: Städter bauen ihr eigenes Gemüse an. Geboren wurde die Idee vor 40 Jahren in New York.
Der Wind pfeift scharf über das Tempelhofer Feld. Am östlichen Rand des ehemaligen Flugfeldes reihen sich mehr als 300 Hochbeete aus Holz auf 5000 Quadratmetern aneinander. Eigentlich sollten hier längst Gemüse, Kräuter und Blumen eingepflanzt sein, doch das Wetter macht den Gärtnern einen Strich durch die Rechnung. Bewirtschaftet werden die Beete in Tempelhof vom „Allmende Kontor“, einem Verein aus ehrenamtlichen und freiwilligen Gärtnern. Mitmachen kann hier jeder, der gerne Blumen und Gemüse anbauen möchte. Und das werden immer mehr in Berlin. Waren es zu Beginn des Projektes 2011 etwa 50 Unterstützer, so kümmern sich heute 700 Menschen um die Beete – von Studenten bis hin zu ganzen Familien. „Wir wollen hier nicht nur Beete bewirtschaften, sondern auch ein Gemeinschaftsgefühl wachsen lassen“, erzählt Kristin Radix, die zum festen Organisationsteam des „Allmende Kontors“ gehört. Die Bürger sollen mehr Verantwortung für sich und ihr Umfeld übernehmen.
Verantwortung, das ist die Grundidee des Urban Farming, das sich derzeit überall auf der Welt durchsetzt. Geboren wurde die Idee in den USA. 1973 gründete sich in New York die „Green Guerilla“, die fortan leere Grundstücke in der Metropole begrünte. Zeitgleich entstand die Bewegung „Green Thumb“, die sich selbst als größte Organisation für gemeinschaftliches Gärtnern in Nordamerika bezeichnet. Die beiden Gruppen haben mittlerweile mehr als 1000 Grünflächen in New York angelegt, auf denen heute Gemüse oder Blumen wachsen. Auch in Deutschland findet die Urban-Farming- Bewegung immer mehr Anhänger – besonders in der Hauptstadt. „Berlin ist die Frontstadt der Gemeinschaftsgärtnerei“, sagt Elisabeth Meyer-Renschhausen vom „Allmende Kontor“. Mittlerweile gibt es hier mehr als 60 Gemeinschaftsgärten und Projekte der urbanen Landwirtschaft.
Die Beweggründe der Urban Farmers sind vielfältig. Auffällig ist, dass die Menschen besonders in Krisenzeiten damit begannen, ihr eigenes Obst und Gemüse in den Städten anzubauen. In Detroit etwa gab der Niedergang der Autoindustrie der Bewegung einen Schub und derzeit beflügelt die seit 2008 andauernde Finanz- und Wirtschaftskrise die Stadt-Bauern in Europa und den USA. Und in Zeiten immer neuer Lebensmittelskandale steht hinter dem eigenen Anbau auch der Wunsch zu wissen, woher die Nahrungsmittel kommen, die man isst, und was darin steckt. „Die jungen Leute wenden sich aus Protest gegen die Bevormundung durch Lebensmittelkonzerne dem Eigenanbau von Gemüse zu“, sagt die Soziologin Meyer-Renschhausen. Auch der Klimaschutz spielt eine Rolle. Viele wollen nicht mehr Tomaten aus Chile kaufen oder Äpfel aus Australien, die einen langen Transportweg hinter sich haben.
Es gehe aber auch um eine Rückkehr zur Natur, meint Meyer-Renschhausen. Mittlerweile lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Schätzungen zufolge wächst die städtische Bevölkerung weltweit jede Woche um mehr als eine Million Menschen an. „Urban Farming ist eine Reaktion auf die Verstädterung der Welt“, sagt Meyer-Renschhausen. Die Menschen suchten einen Ausgleich zum modernen Alltag, der eine Entfremdung von der Natur bedeute. „Urbane Landwirtschaft ist so populär, weil die Leute nicht mehr an die großen Entwürfe glauben und sich deshalb wieder dem guten, aber auch kleinteiligen Leben zuwenden“, sagt die Soziologin. Die urbanen Gärtner kommen dabei aus den verschiedensten sozialen Schichten und Altersgruppen – von Senioren, die ihr eigenes Gemüse anbauen, um die Rente aufzubessern, bis zu Arbeitslosen, die mit grünen Projekten einen Neuanfang wagen.
„Jeder kann mitmachen und sein eigenes Gemüse anpflanzen.“
Mittlerweile gibt es in Berlin verschiedenste Formen des Urban Farmings. Auf dem „Allmende Kontor“ am Tempelhofer Feld werden zum Beispiel auch Bienen gezüchtet. Das Gemeinschaftsprojekt beteiligt sich an der Initiative „Berlin summt“, die an 15 Standorten Bienenkästen aufgestellt hat. Berlin bietet den Insekten optimale Bedingungen. „In der Stadt ist es wärmer als auf dem Land und der Zeitraum, in dem die Pflanzen blühen, ist länger“, sagt Andreas Karminski von „Berlin summt“. Mittlerweile fliegen Bienen auf dem Dach des Berliner Doms, dem Abgeordnetenhaus und auf vielen Balkonen ein und aus.
Auch in Kreuzberg, in den Prinzessinnengärten, leben acht Bienenvölker. Das Urban-Farming-Projekt startete zu Beginn der Wirtschaftskrise auf einer 5800 Quadratmeter großen Brachfläche am Moritzplatz. Mittlerweile arbeiten in und für die Prinzessinnengärten 14 Festangestellte, die Obst und Gemüse anbauen oder Speisen im Gartenrestaurant zubereiten und verkaufen. Das Konzept des Gartens inmitten der Stadt beruht auf Partizipation: „Jeder kann mitmachen und sein eigenes Gemüse anpflanzen, und kommen und gehen wann er will“, sagt Gründer Robert Shaw. „Die Stadt ist ein Ballungsraum, der die Leute nicht versorgen kann.“ Der Wunsch danach, zwischen Beton und Stein selbst etwas zu schaffen, bringe die Leute in die Prinzessinnengärten. Derzeit ziehen die urbanen Gärtner dicke Bohnen und Paprika unter Wärmelampen. Sobald es warm genug ist, werden die Sprösslinge im Garten in Tetrapak und Reissäcke gepflanzt.
Um Profit geht es den meisten Stadtfarmern nicht. Wer im Prinzessinnengarten bei der Ernte hilft, bekommt das Gemüse zum halben, alle anderen können die Produkte zum regulären Preis dort kaufen. Außerdem finanziert sich das Projekt über Führungen, Vorträge und Beratungen. Beim „Allmende Kontor“ spenden die Gärtner je nach ihren finanziellen Möglichkeiten fürs Mitmachen zwischen zwölf und 120 Euro pro Jahr.
Karoline vom Böckel, Nicolas Leschke und Christian Echternacht arbeiten jedoch daran, den Anbau in der Stadt profitabel zu machen. Ihr Start-up Efficient City Farming (ECF) baut urbane Container- und Stadtfarmen. Die Ökosysteme versorgen sich selbst. Möglich macht dies ein vom Leibniz Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei entwickeltes Aquaponik-System, bei dem Fische und Pflanzen parallel gezüchtet werden. Das System ist ein ständiger Kreislauf: Die Ausscheidungen der Fische düngen die Pflanzen, die im Wasser wachsen und zugleich das Abwasser reinigen. Angebaut werden kann fast alles – bis auf Wurzelgemüse. Jeder Container kostet 32 000 Euro. „Wir wollen Ressourcen sparen und den Menschen einen Zugang zu nachhaltiger Nahrung geben“, beschreibt Leschke die Grundidee des Projekts. Seit eineinhalb Jahren arbeiten die drei Unternehmer in der Berliner Malzfabrik daran, ihre erste große Stadtfarm auf die Beine zu stellen, für die sie noch Investoren suchen. Einen ersten Erfolg können sie vorweisen: Kürzlich kaufte die bayerische Stadt Pocking einen ECF-Container, in dem bald schon Fische und Pflanzen wachsen sollen.
Luisa Degenhardt