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Noch qualmen die Schornsteine des Stahlwerks Ilva in Taranto.
© Ciro De Luca/Reuters

ArcelorMittal gibt in Taranto auf: Stahlwerk Ilva – der sterbende Koloss in Süditalien

Die Ankündigung von ArcelorMittal, sich aus dem Stahlwerk Ilva zurückzuziehen, hat Taranto in Schockstarre versetzt. 15.000 Familien bangen um die Zukunft.

"Es ist, als befinde sich die Fabrik in ihrem Todeskampf", sagt Paolo Panarelli, Vorarbeiter im Walzwerk 1 der Ilva in Taranto. Die Belegschaft sei deprimiert und verunsichert: "Niemand weiß, ob und wie es hier weitergehen wird." Der 45-Jährige arbeitet seit mehr als 20 Jahren in der Ilva.

Die Ilva ist ein Moloch, eine Dreckschleuder – und größte Arbeitgeberin

Seit Arcelor Mittal am 4. November angekündigt hatte, sich aus dem riesigen Stahlwerk in Taranto wieder zurückzuziehen, wird in der Ilva eine Produktionsreihe nach der anderen stillgelegt. Vergangenen Woche hat die Führung von ArcelorMittal mitgeteilt, dass ab dem 10. Dezember auch die drei noch in Betrieb stehenden Hochöfen - Herzstück eines jeden Stahlwerks - schrittweise heruntergefahren werden.

Paolo Panarelli steht am Eingang zur "Direzione" des Stahlwerks, zusammen mit anderen Arbeitern, die in der Fabrik nun nicht mehr gebraucht werden. Vor dem Verwaltungsgebäude sind ein Wagen der Polizei und mehrere Beamte stationiert worden - um die Manager vor aufgebrachten Arbeitern zu schützen, sofern dies nötig würde.

Bisher ist es noch zu keinen Zwischenfällen gekommen: Alles ist ruhig. Zu ruhig und zu still, wie Panarelli und seine Kollegen finden: "Wenn man mich früher gefragt hätte, was die Ilva ist, dann hätte ich gesagt: Alles ist riesig, und überall ist ein riesiger Lärm." Jetzt könne man sich im Werk in normaler Lautstärke unterhalten. "Eigentlich ist die Ilva bereits gestorben."

Die Ankündigung von ArcelorMittal, sich aus dem Stahlwerk von Taranto zurückzuziehen, hat die ganze Stadt in einen Schockzustand versetzt. Die Ilva ist zwar ein Moloch und eine Dreckschleuder, aber auch die größte Arbeitgeberin in der 200.000-Einwohner-Stadt am Ionischen Meer: Das Werk, das flächenmäßig zweieinhalb mal so groß ist wie die Stadt, beschäftigt derzeit 8200 Arbeiter; hinzu kommen rund 6000 Arbeitsplätze in etwa 150 Zulieferbetrieben. "Wir reden also von knapp 15.000 Familien, die fürchten, ihrer Zukunft beraubt zu werden", sagt Biagio Brisciano, Kran-Monteur und Mitglied der Metallarbeitergewerkschaft FIM. "Alle fragen sich: Was mache ich, wenn ich meine Arbeit verliere? Wie ernähre ich meine Familie? Wie zahle ich die Raten für die Wohnung?"

ArcelorMittal hatte 2018 das Ausschreibeverfahren des Senats gewonnen

ArcelorMittal, der größte Stahlkonzern der Welt mit Sitz in Luxemburg, hatte im vergangenen Jahr das Ausschreibeverfahren des italienischen Staats für die Ilva gewonnen und sich im September 2018 vertraglich verpflichtet, die marode Fabrik zum "modernsten Stahlwerk Europas" zu machen und das ganze Fabrikareal in eine "green zone" zu verwandeln.

Allein für Umweltmaßnahmen hatte ArcelorMittal Investitionen in der Höhe von 1,2 Milliarden Euro zugesagt; der gleiche Betrag war für die Modernisierung der zum Teil hoffnungslos veralteten Anlagen vorgesehen. Im Gegenzug sicherte die italienische Regierung den neuen Besitzern unter anderem einen Schutz vor Strafverfolgung wegen Umweltdelikten bis zum Abschluss der geplanten Sanierung im Jahr 2023 zu.

Die größte Regierungspartei in Rom, die Fünf-Sterne-Protestbewegung, hatte sich mit der sogenannten "Immunität" für die neuen Besitzer immer schwergetan. Fünf-Sterne-Politikchef und Außenminister Luigi Di Maio hatte den rechtlichen Schutzschild als früherer Minister für wirtschaftliche Entwicklung einmal als das "perfekte Verbrechen" bezeichnet.

Und im Oktober hat dann der Senat auf Antrag einer Parlamentarierin der "Grillini" diesen Rechtsschutz tatsächlich gestrichen, obwohl die Führung von ArcelorMittal mehrfach gewarnt hatte, dass sie sich in diesem Fall auf die Rücktrittsklausel im Vertrag berufen und aus Taranto wieder verabschieden werde.

"Aus dem perfekten Verbrechen ist das perfekte Alibi geworden"

Der Zorn der Arbeiter in Taranto richtet sich daher auch weniger gegen die Verantwortlichen des Weltkonzerns, sondern vielmehr gegen die eigene Regierung. "Der Rückzug von ArcelorMittal war kein Blitz aus heiterem Himmel - er ist das Resultat politischer Unfähigkeit und Kurzsichtigkeit", sagt Gewerkschafter Brisciano. "Man kann nicht während des Spiels die Spielregeln ändern."

ArcelorMittal, das wie alle anderen Stahlerzeuger Europas unter einer wegen der von den USA gegen China verhängten Zölle unter einer drastisch verschlechterten Marktsituation leide und in Taranto derzeit jeden Tag zwei Millionen Euro verliere, habe man mit der Streichung der Immunität einen willkommenen Vorwand geliefert, sich aus einem Engagement zurückzuziehen, das innerhalb von nur einem Jahr zu einem Klotz am Bein geworden ist. "Aus dem perfekten Verbrechen ist das perfekte Alibi geworden", sagt Brisciano bitter.

Polizei ist am Werk postiert, um Übergriffe auf Manager zu verhindern.
Polizei ist am Werk postiert, um Übergriffe auf Manager zu verhindern.
© Ciro De Luca/Reuters

Der Rückzug der ausländischen Investoren aus der Ilva erfüllt nicht nur die Arbeiter mit Zukunftsangst - über die ganze Stadt Taranto hat sich eine Art Endzeitstimmung gelegt. Einen Kilometer vor dem Industriehafen dümpeln über ein Dutzend große Frachter mit Kohle und Eisenerz, die darauf warten, dass sie ihre Fracht vielleicht doch noch irgendwann löschen können. ArcelorMittal hat die Anlieferung gestoppt und verbraucht nur noch die bereits vorhandenen Lagerbestände.

Zulieferbetriebe verschicken seit einigen Tagen Briefe an ihre Mitarbeiter, wonach ihre Löhne ab November nicht mehr ausbezahlt werden könnten, da keine Aufträge mehr aus dem Stahlwerk kämen, das außerdem auch Rechnungen in der Höhe von 50 Millionen Euro noch nicht bezahlt habe. "Hier kommt es nun zu einer Kettenreaktion, zu einer sozialen Katastrophe bisher ungeahnten Ausmaßes", sagt Brisciano.

Das gigantische Stahlwerk vor den Toren der Stadt ist für Taranto seit seiner Entstehung als Staatsbetrieb im Jahr 1965 stets Fluch und Segen zugleich gewesen. Es hat den Bewohnern Arbeit und Einkommen gegeben in einer Region, in der die Arbeitslosigkeit weit über dem nationalen Durchschnitt liegt und bei den unter 24-Jährigen 50 Prozent erreicht.

Massive Verschmutzung durch Ilva löst viele Krebserkrankungen aus

Gleichzeitig gibt es in Taranto kaum eine Familie, die wegen der massiven Verschmutzung nicht den Verlust eines Angehörigen wegen Krebs oder anderen Krankheiten zu beklagen hätte. "Auf dem Friedhof von Taranto, der gleich neben dem Werksareal liegt, liegen die Geburts- und die Sterbejahre auf den Grabsteinen näher beieinander als auf jedem anderen Friedhof Italiens", sagt der Barbetreiber Daniele Convertino, der früher ebenfalls in der Ilva gearbeitet hatte und seine Stelle schon vor etlichen Jahren verloren hatte.

Über Jahrzehnte haben sich der schwarze Kohlestaub und der rote Staub der Eisenerzhalden, die eine Fläche von zehn Fußballfeldern umfassen, auf die Häuser und Straßen Tarantos gelegt. Kein Fenster ist so dicht, dass der Staub nicht auch in die Wohnungen und in die Lungen der Bewohner gelangen könnte.

Wirtschaftliches Überleben einer ganzen Region steht auf dem Spiel

Viele Anwohner, besonders im besonders nahe dem Werk gelegenen Arbeiterquartier Tamburi, forderten deshalb seit Jahren eine Sanierung oder auch die Stilllegung des Werks. Doch inzwischen ist es es auch vielen Ilva-Gegnern wie Convertino etwas bange geworden: "Früher stand Taranto immer vor der Wahl, bei einer Schließung des Werks zu verhungern oder bei einem Weiterbetrieb von den Immissionen vergiftet zu werden. Heute könnte man diesen Gegensatz überwinden: Man kann ein Stahlwerk betreiben, ohne die Gesundheit der Anwohner aufs Spiel zu setzen - dafür gibt es genügend Beispiele im Ausland."

Die Arbeiter und Metallarbeiter-Gewerkschafter Paolo Panarelli, Vincenzo La Neve und Biagio Brisciano.
Die Arbeiter und Metallarbeiter-Gewerkschafter Paolo Panarelli, Vincenzo La Neve und Biagio Brisciano.
© Dominik Straub

Die Ilva ist und bleibt Spielball einer auf kurzfristige Wahlerfolge abzielenden Politik - ähnlich wie die Alitalia, für die ebenfalls seit zweieinhalb Jahren vergeblich ein Käufer gesucht wird. Um seine Haut als Politikchef der "Grillini" zu retten, pocht der innerhalb der Protestbewegung zunehmend umstrittene Außenminister Di Maio nun auf die Verweigerung der Immunität für die Manager - und setzt damit das wirtschaftliche Überleben einer ganzen Region aufs Spiel.

"Di Maio behauptet, dass die Immunität ein Freibrief wäre, um die schlimmsten Umweltverbrechen zu begehen. Dabei hat ArcelorMittal Wort gehalten und nach der Übernahme der Ilva als erstes 300 Millionen Euro in die Überdachung der Kohle- und Eisenerzhalden gesteckt", sagte Gewerkschafter Brisciano.

Der Niedergang des Stahlwerks Ilva und mit ihr der Stadt Taranto hat nicht erst mit der Übernahme durch ArcelorMittal eingesetzt: Der Staat, später die italienische Familie Riva und zuletzt drei Regierungskommissare haben es jahrzehntelang versäumt, das Riesenwerk mit einst bis zu 20.000 Beschäftigten zu modernisieren und den Erfordernissen des hart umkämpften Stahl-Marktes anzupassen. "Die Übernahme durch ArcelorMittal vor einem Jahr hatte uns die Hoffnung gegeben, dass nun ein großer internationaler Konzern, der etwas von Stahlproduktion versteht, das Versäumte endlich nachholt", sagt der Gewerkschafter und Arbeiter Vinzenco La Neve. Aber einmal mehr ist im wirtschaftlich abgehängten tiefen Süden Italiens eine Hoffnung zerplatzt. Und nun stehen Taranto und sein sterbender Industriekoloss möglicherweise vor dem endgültigen Aus.

Dominik Straub

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