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„Ein Industrieland müsste das besser hinbekommen“, sagt BDI-Chef Siegfried Russwurm über das Impfmanagement in Deutschland.
© Christian Kuppa/BDI
Exklusiv

Industriepräsident Russwurm im Interview: „So funktioniert Krisenmanagement nicht“

Berlins Homeoffice-Pflicht hält BDI-Präsident Siegfried Russwurm für realitätsfern. Die harten Pandemie-Maßnahmen gefährdeten zudem die Innovationsfähigkeit.

Siegfried Russwurm ist Ingenieur und denkt wie einer – auch über das Impfchaos. Dass jede Region die Impfzentren selbst plant, das mache ihn nervös, sagt er. Als Ingenieur würde er das anders machen: „Da entwickeln Sie einmal die beste Lösung“, sagt er, „und dann rollen Sie das bundesweit aus“.

Seit Januar ist Russwurm Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), vertritt die die Interessen von 100 000 Unternehmen mit acht Millionen Angestellten. Zum Interview ist der 57-Jährige per Video aus dem Homeoffice in Oberfranken zugeschaltet: „auf halber Strecke zwischen München und Berlin“. Zwischen Wirtschaft und Politik. Karriere gemacht hat er bei Siemens, wo er bis 2017 im Vorstand saß. Bei Thyssen-Krupp ist Russwurm seit 2019 Aufsichtsratschef.

Herr Russwurm, Teile der Wirtschaft sind bald ein halbes Jahr im Stillstand. Was macht das mit dem Standort Deutschland?
Ein solch langer Lockdown hinterlässt deutliche Spuren – vor allem in den Betrieben und Branchen, die nun schon so lange stillstehen. Ob das die Gastronomie ist, die Kulturbranche oder das Messegeschäft. Aber auch an der Industrie geht die Pandemie nicht spurlos vorbei.

Dabei ist die Industrie doch die Branche, die uns durch die Krise trägt: Da wird weiter produziert und exportiert.
Das Tagesgeschäft können wir mit Hygiene-Maßnahmen in den Werken und möglichst viel Homeoffice stemmen – in der Regel in enger Abstimmung mit den Betriebsräten.

Umso irritierender finde ich, dass der Regierende Bürgermeister von Berlin diese Maßnahmen als nicht ausreichend disqualifiziert und wortwörtlich über Nacht pauschale Vorgaben macht, obwohl es eine klare Vereinbarung dazu zwischen Bundesregierung, Ministerpräsidenten und Wirtschaftsverbänden gibt.

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Sie meinen die Homeoffice-Pflicht, die Michael Müller am Wochenende verkündet hat: Vorerst dürfen höchstens 50 Prozent der Büroarbeitsplätze genutzt werden.
Feste Quoten sind realitätsfern. Berliner Amtsstuben wissen besser, was für die Betriebe richtig ist als die Betriebsparteien vor Ort: Diese These kann nur vertreten, wem der Beitrag der Industrie zur Krisenbewältigung völlig egal ist.

Was ist das größte Risiko für die Industrie?
Wenn man von Kurzschlusshandlungen einzelner Politiker absieht: Ich fürchte, dass langfristig die Kreativität auf der Strecke bleibt. Außergewöhnliche Ideen entstehen vor allem dadurch, dass Menschen zusammenkommen.

Dass man Dinge im wortwörtlichen Sinne begreift, etwa gemeinsam an Prototypen arbeitet. Meine Sorge ist, dass wir in der Industrie wie auch in anderen Branchen bei den Innovationen zurückfallen. Dabei sind sie entscheidend für die Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland.

Bei Thyssen-Krupp leitet Siegfried Russwurm den Aufsichtsrat. Hier mit Thyssen-Krupp-Chefin Martina Merz bei der Hauptversammlung Anfang 2020.
Bei Thyssen-Krupp leitet Siegfried Russwurm den Aufsichtsrat. Hier mit Thyssen-Krupp-Chefin Martina Merz bei der Hauptversammlung Anfang 2020.
© imago images/Jürgen Schwarz

Haben Sie dennoch Verständnis für die Lockdown-Verlängerung?
Die hohen Inzidenzwerte lassen sich nicht ignorieren. Aber als Reaktion fällt der Politik wenig anderes ein als die Holzhammer-Methode: pauschal auf oder zu. Dabei hätte es ausgefeiltere Möglichkeiten gegeben, um die Zahl der CoronaFälle frühzeitig zu drücken.

Ich finde es für eine Hightech-Nation beschämend, dass wir selbst nach zwölf Monaten so wenig darüber wissen, wo sich das Virus besonders stark ausbreitet, und kein evidenzbasiertes Pandemiekonzept haben. Das ginge mit digitalen Tools, die bislang aber kaum zum Einsatz kommen.

Es gibt die Corona-Warnapp...
Ja, aber der Datenschutz wurde als sakrosankt erklärt. Dabei hätte die Politik sagen können: Wir sind in einer Ausnahmesituation. Wir stellen auch die Digitalisierung in den Dienst der Pandemiebekämpfung. Und dafür sind maßvolle Anpassungen beim Datenschutz nötig. Mich würde es in meiner persönlichen Freiheit nicht groß einschränken, wenn mein Bewegungsprofil im Fall einer Infektion kompetenten Stellen zur Verfügung stünde.

Was kann die Politik beim nächsten wichtigen Thema, dem Impfen, besser machen?
Sie sollte jetzt vor allem eine bundesweite Impfkampagne starten. Bald wird Impfstoff nicht mehr der Engpassfaktor sein – und dann muss es Schlag auf Schlag gehen. Darauf muss unser Land sich heute gut vorbereiten – logistisch und organisatorisch.

Dabei könnte das Impfen schon jetzt schneller gehen.
Jetzt kommt es darauf an, möglichst viele Erstimpfungen durchzuführen. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass die Politik umdenken muss. Es geht zu sehr um Priorisierung und Gerechtigkeit – doch die Pandemie ist nicht gerecht. Zweifellos war es richtig, erst die besonders Schutzbedürftigen zu impfen.

Aber Detailierungswut ist kontraproduktiv. Wir können schlicht nicht 83 Millionen Menschen in eine Reihenfolge bringen und diese Liste dann akribisch abarbeiten – sind erst 29-Jährige mit Vorerkrankung dran oder 39-Jährige mit Übergewicht? Das wäre überzogen und dauerte zu lange. Pragmatismus ist gefragt.

Impfzentren müssen so organisiert sein, dass ein Arzt möglichst viele Menschen impfen kann, sagt Russwurm.
Impfzentren müssen so organisiert sein, dass ein Arzt möglichst viele Menschen impfen kann, sagt Russwurm.
© dpa

Welchen Beitrag leisten die Betriebsärzte?
Das Konzept für die Einbindung der Betriebsärzte in die Impfstrategie liegt vor. Sobald genug Impfstoff da ist, kann es losgehen. Aber auch da gilt: Die Betriebsärzte können nicht erst die Belegschaft in vorgegebene Kategorien aufteilen. Wenn ein Betrieb innerhalb weniger Tage oder auch zwei, drei Wochen durchgeimpft ist, dann ist es egal, wer zuerst und wer zuletzt den Piks bekommt. Allein die produzierende Industrie und ihre Dienstleister haben rund zehn Millionen Beschäftigte. Wenn wir von denen acht Millionen über die Betriebsärzte impfen, dann sind wir im Kampf gegen die Pandemie ein ganzes Stück weiter.

Das Impfmanagement der Regierung steht in der Kritik. Was kann sie von der Wirtschaft lernen?
Vor allem eins: möglichst effizient vorzugehen. Nehmen Sie die Impfzentren. Engpass dort sind – sobald genug Impfstoff da ist – die Ärzte. Also müssen Sie die Impfzentren so organisieren, dass Sie mit wenigen Ärzten möglichst viele Menschen impfen können.

Die Tatsache, dass jeder sich separat überlegt, sein Impfzentrum zu gestalten, macht mich als Ingenieur nervös. Ein Industrieland müsste das besser hinbekommen. Da entwickeln Sie einmal die beste Lösung für einen effizienten Ablauf – und dann rollen Sie das bundesweit aus.

Steht uns der Föderalismus im Weg?
In mancher Hinsicht schon. Den rund 400 Gesundheitsämtern hätten zum Beispiel Bund und Länder früh sagen können: Wir sind mitten in einer Pandemie, deshalb endet hier eure Autonomie! Sonst passiert so etwas wie bei der Einführung der Sormas-Software.

Bund und Länder hatten sich zwar darauf verständigt, dass alle Gesundheitsämter sie einführen – am Ende aber wird sie von vielen nicht genutzt. Ich kann da nur sagen: So funktioniert Krisenmanagement nicht. Das können wir gesellschaftlich besser machen.

Zum Krisenmanagement gehört, Fehler einzugestehen. Kanzlerin Merkel hat das getan, als sie die Osterruhe zurücknahm. Zeigt das Verantwortungsbewusstsein?
Ich habe großen Respekt vor diesem Schritt der Kanzlerin. Man muss sich aber fragen, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Endlos-Sitzungen bis tief in die Nacht sind selten eine gute Idee. Aber vor allem sollte die Konferenz der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten eine Entscheidungsrunde sein – kein Brainstorming. Jeder Vorschlag, der dort auf den Tisch kommt, muss vorher überlegt, durchdacht und auf seine Durchführbarkeit geprüft sein.

Kanzlerin Angela Merkel hat sich vergangene Woche entschuldigt und die Osterruhe zurückgenommen.
Kanzlerin Angela Merkel hat sich vergangene Woche entschuldigt und die Osterruhe zurückgenommen.
© imago images/Emmanuele Contini

Versagt das Krisenmanagement auch bei den Finanzhilfen für die Betriebe?
Von vielen Betrieben hören wir, dass es mit der Kurzarbeit extrem gut klappt. Unternehmen können sie digital beantragen, und das Geld von der Arbeitsagentur ist schnell da. Die Reform der Arbeitsverwaltung war offenbar ein voller Erfolg. Bei den Finanzhilfen gibt es eine andere Situation.

Dahinter steckt die gute Absicht, den Unternehmen in einer absoluten Ausnahmesituation zu helfen, und zwar mit sehr viel Geld. Aber die Umsetzung war alles andere als perfekt: Die Verwaltung wollte besonders korrekt vorgehen, indem sie die Anträge von den Steuerberatern stellen lässt. Einfacher wäre es gewesen, die Arbeit gleich den Finanzämtern zu überlassen. Sie sehen später bei der Steuererklärung ohnehin, wer die Förderung zurecht erhalten hat und wer nicht.

Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat versprochen, er lässt die Wirtschaft nicht hängen. Hat er Wort gehalten?
Ja. Das muss man bei aller Kritik an der Abwicklung der Hilfen sagen. Solch eine umfangreiche finanzielle Unterstützung hat es für Betriebe und Beschäftigte noch nie gegeben. Auch dass Pandemie-bedingte Umsatzausfälle erstattet werden, ist richtig.

Also sind Sie unterm Strich doch ganz zufrieden mit dem Wirtschaftsminister?
Herr Altmaier ist jemand, der sich mit der Wirtschaft austauscht, der kontinuierlich das Gespräch sucht und sich nicht einmauert. Ich habe das Gefühl, dass er sehr ernst nimmt, was er in diesen Runden hört. Das heißt aber nicht, dass die Regierung anschließend alle unserer Vorschläge umsetzt und auch nicht, dass alles glatt läuft.

Für Ende der Woche steht der nächste Wirtschaftsgipfel mit Herrn Altmaier an. Was steht auf Ihrer Wunschliste?
Wo unsere Unternehmen sich mehr Unterstützung wünschen, ist beim Verlustrücktrag. Wer Verluste mit Gewinnen aus den Vorjahren verrechnen kann, gewinnt dringend erforderlichen finanziellen Spielraum. Dieses Instrument zur Bewältigung der akuten Notlage muss die Politik ausweiten – Zeitraum und Höhe des Verlustrücktrags. Andere Länder sind da weiter. Und langfristig muss Deutschland an die Unternehmensteuern ran. Nur so wird unser Standort international wieder wettbewerbsfähig.

Sind Sie dennoch optimistisch, dass die deutsche Wirtschaft einigermaßen gut durch die Krise kommt?
Entscheidend ist, dass wir jetzt beim Impfen Tempo machen, auch frühmorgens, spätabends, am Wochenende. Wenn uns das gelingt, haben wir gute Gründe, optimistisch in die Zukunft zu schauen.

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