Zeitzeugen erinnern sich: Schlange stehen für die West-Mark
Am Tag der Währungsunion geht den Filialen das Geld bereits nach zwei Stunden aus. Der Chef holt Nachschub: Mit Millionen DM im Kofferraum fährt er durch Berlin. Zeitzeugen erinnern sich, wie das war, als die DM in den Osten kam.
Thermoskanne, Ausweis, eine warme Jacke. An alles hat Hans-Joachim Corsalli gedacht. Es ist Samstagnachmittag, kurz nach fünf, als der Kohlenfahrer aus Hellersdorf seinen Klappstuhl vor der Deutsche-Bank-Filiale am Alexanderplatz aufstellt. Sieben Stunden muss er noch warten. Sieben Stunden, bis die Volksrepublik die Deutsche Mark einführt. Es ist das Wochenende, das alles verändert. Am Samstag, dem 30. Juni 1990, gibt es noch die Ost-Mark, am Sonntag ist sie Geschichte.
Über Nacht tauscht die DDR ihre Währung aus. Für die meisten Bürger ist das ein Grund zur Freude. Sie feiern wilde Währungspartys. Die letzten Aluchips der Ost-Mark gehen für Rotkäppchensekt drauf. Es gibt Autokorsos und Feuerwerk. Schließlich ist die DM mehr als ein Zahlungsmittel. Sie ist ein Symbol für den Westen, für die freie Marktwirtschaft, in der man fast alles kaufen kann. Mit der DM kommt der Wohlstand, hoffen die Bürger.
Bereits in den Wochen vor der Währungsunion stehen die Kunden Schlange
Diese Euphorie, diese Vorfreude, sie ist schon mehrere Wochen vor der Währungsunion am 1. Juli 1990 zu spüren. Die DDR-Bürger rennen zur Bank, beantragen die Umstellung ihrer Konten auf DM. „Wenn wir morgens geöffnet haben, stand meist schon eine Schlange von wartenden Kunden vor der Tür“, sagt Martina Purbst, die damals die Sparkassenfiliale am Hackeschen Markt leitet. Immer wieder geht sie nach draußen, verteilt Zettel mit Wartenummern an diejenigen, die erst in einigen Stunden oder gar am nächsten Tag dran kommen.
Weil mit der Währungsunion nur umgetauscht wird, was auf dem Konto liegt, kratzen die Ost-Berliner alles an Bargeld zusammen, was sie bislang noch zuhause aufbewahrt haben. „Die Kunden kamen zum Teil mit Papiertüten voller Scheine in die Filiale“, sagt Purbst. „Manche Banknoten waren bereits angeschimmelt oder braun angelaufen.“ Doch die Filialleiterin drückt ein Auge zu und nimmt das Geld trotzdem an.
Viele Berliner richten noch schnell ein Konto ein
Etliche Ost-Berliner eröffnen in diesen Tagen noch schnell ein Konto. Denn für den Umtausch in DM gibt es strenge Grenzen. Erwachsene können maximal 4000 Ost-Mark im Verhältnis 1:1 tauschen. Bei Rentnern sind es 6000, bei Kindern 2000 Ost-Mark. Ist mehr Geld auf dem Konto, wird die übrige Summe nur im Verhältnis 1:2 in DM übertragen. Um die Tauschgrenzen auszunutzen, richten viele Familien nun also auch für jedes ihrer Kinder ein Konto ein. Allein bei der Berliner Sparkasse werden in den sechs Monaten vor der Währungsunion 150.000 neue Konten eröffnet.
Kurz vor dem entscheidenden Tag, dem 1. Juli, sitzt Filialleiterin Purbst im Tresorraum, zählt Scheine und Münzen. Sie und ihre Kolleginnen haben Starterpakete für die Händler am Hackeschen Markt zusammengestellt: Tüten mit je 500 bis 1000 DM. Denn die Händler bekommen als Erste die neue Währung. Sie brauchen dringend Wechselgeld: Ihre Kunden sollen bereits am Tag der Währungsunion noch auf dem Rückweg von der Bank bei ihnen mit DM bezahlen können. „Als wir mit allen Paketen fertig waren, stellten wir fest, dass die Endsumme in der Kasse nicht stimmt“, sagt Purbst. „Also haben wir die Tüten im Tresor ausgeschüttet und noch einmal von vorne angefangen.“
"Lasst uns mutig anfangen", sagt der Ministerpräsident
Dann ist endlich Wochenende. Das Wochenende, auf das Martina Purbst, Hans-Joachim Corsalli und so viele andere so lange gewartet haben. Am Abend des 30. Juni 1990 hält Lothar de Maizière, Ministerpräsident der DDR, eine Fernsehansprache. Anlass: die Währungsunion. „Lasst uns mutig anfangen“, sagt er. „Wir sollten nicht in erster Linie und vor allem Probleme sehen, sondern die Chance.“
Eine Chance sieht auch der Pressesprecher der Deutschen Bank. Seine Idee soll es gewesen sein, die neue Filiale am Alexanderplatz bereits um Mitternacht zu öffnen – und nicht erst wie die Konkurrenz am Sonntagmorgen aufzumachen. Es ist ein Marketingag, mit dem die Privatbank im Osten Kunden gewinnen will. Und: Er funktioniert.
Wie Kohlenfahrer Corsalli kommen tausende Ost-Berliner in der Nacht zum Alexanderplatz – getrieben von dem Wunsch, endlich die DM in den Händen zu halten. Um eine Minute nach Mitternacht wird Corsalli als erster Kunde hereingebeten. 3000 DM hebt er ab für sich und seine Frau. Dazu gibt es einen Präsentkorb, West-Champagner und ein paar nette Worte des Filialleiters. Fotografen halten den Moment fest, lichten Corsalli ab, wie er dort steht: großes Lachen, Oberlippen-Bart, blauer Strickpulli, die neuen DM-Scheine aufgefächert in der Hand.
Und dann sind seine fünf Minuten Ruhm schon wieder vorbei. Draußen wird die Menge unruhig. Die Menschen drängen nach vorne, gen Eingang. Scheiben gehen zu Bruch. 13 Menschen werden in dieser Nacht verletzt. Pressesprecher Hellmut Hartmann klettert in einen DDR-Polizeiwagen. „Wir weisen Sie daraufhin, dass keiner heute Abend nach Hause geht, ohne sein Geld zu bekommen“, ruft er in die Menge. „Wir haben genügend Geld da.“ Die Volkspolizei springt ein und transportiert noch in der Nacht etliche Millionen an Bargeld von der Bundesbank im Planwagen zum Alexanderplatz.
"Jetzt kommt die Chefin, jetzt kommt die DM", rufen die Kunden
Am nächsten Morgen, als die auch die anderen Banken öffnen, läuft alles zivilisierter ab. Die Sonne scheint, es ist ein warmer Sommertag. Am Nachmittag wird die Nationalmannschaft um den Einzug ins Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft spielen. Und auch wenn die DDR-Spieler noch nicht Teil des Teams sind, fiebert man im Osten mit. Als Filialleiterin Annegret Nostitz am Morgen zur Arbeit kommt, warten bereits etliche Kunden vor ihrer Zweigstelle der Sparkasse in Hellersdorf. Untergebracht ist die Filiale wie so viele damals in Ost-Berlin in der ersten Etage eines normalen Mehrfamilienhauses. „Die Schlange zog sich um den gesamten Häuserblock“, sagt Nostitz.
„Jetzt kommt die Chefin, jetzt kommt die DM“, rufen die Kunden. Ein Kollege beschreibt die Stimmung als euphorisch, aber harmonisch. Auch wenn die Kunden zum Teil über Stunden anstehen müssen, werden sie nicht ungehalten oder unfreundlich. Manche der Wartenden haben morgens extra Getränke und Essen eingepackt, immer wieder bringen sie den Bankmitarbeitern davon etwas vorbei.
Die Währungsunion ist eine logistische Herausforderung
Banker wie Kunden brauchen an diesem Tag viel Geduld. Die Filiale in Hellersdorf ist erst zwei Stunden geöffnet, da geht den Mitarbeitern bereits das Bargeld aus. Die Zentrale kommt mit der Auslieferung der Scheine und Münzen am 1. Juli wie in den Folgewochen kaum hinterher. Die Währungsunion ist eine logistische Herausforderung. Bargeld im Wert von 27,5 Milliarden DM muss in der DDR verteilt werden: 460 Tonnen Scheine, 600 Tonnen Münzen.
Um die Kunden nicht warten zu lassen, improvisieren die Banker – und tun etwas, was heute unvorstellbar wäre. „Wenn es ganz eng wurde, haben wir die Scheine auch mal mit Privatwagen transportiert“, sagt Henrik Schönholz, der damals bei der Berliner Sparkasse im Ostteil der Stadt für den Zahlungsverkehr verantwortlich ist. An die sechs Millionen DM landen so im Lada des Chefs. „Sicherheitshalber fuhr ein Kollege mit einem zweiten Wagen hinterher“, sagt Schönholz. So geht es von der Zentrale am Alexanderplatz quer durch die Stadt. Sie halten an einer Filiale, holen zwei Millionen DM aus dem Kofferraum, fahren weiter zur nächsten. Angst hat Schönholz keine. „Das waren andere Zeiten“, sagt er.
Auch aus West-Berlin kommt am 1. Juli Unterstützung. Einer, der damals einspringt, ist Uwe Frankowski. Eigentlich arbeitet er im Westteil der Stadt in der IT-Abteilung der Berliner Volksbank. Als er an diesem Sonntag gegen Mittag als Ablösung in der Chausseestraße in Mitte kurz hinter dem Grenzübergang eintrifft, muss er sich erst einmal durch die wartende Menge kämpfen. Manche werfen ihm vor, sich vorzudrängeln. Erst als er sich als Mitarbeiter zu erkennen gibt, lassen sie ihn durch. Drinnen sitzt Frankowski an einem Schreibtisch, eine Geldkassette vor sich: der provisorische Ersatz fürs Kassenhäuschen. „Der Tag war unglaublich stressig“, sagt Frankowski. „Aber es war toll, dabei zu sein.“
Jedem Kunden, der bei ihm DM abhebt, drückt Frankowski einen Stempel in den Pass. So will man verhindern, dass die Menschen sich mehrmals anstellen. Denn jeder darf in der ersten Juli-Woche höchstens 2000 DM abheben. Zu groß ist die Angst, die Bargeldversorgung könnte zusammenbrechen. „Die Menschen wollten das Geld unbedingt in der Hand halten“, sagt Frankowski. „Als ob sie es gar nicht glauben könnten, dass es nun auch im Osten die DM gibt.“