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Autisten wie Raymond Babbitt im Film "Rain Man" haben oft ein phänomenales Gedächtnis für Daten.
© p-a/dpa

Software-Riese auf der Suche nach IT-Spezialisten: SAP stellt Hunderte Autisten ein

Auf der Suche nach Perfektionisten: Der Software-Riese SAP will weltweit Menschen mit Autismus zu IT-Spezialisten ausbilden. Der Konzern ist nicht der erste, der diesen Weg geht: Ein Berliner Unternehmen hat vorgemacht, wie’s geht.

Von Maris Hubschmid

„Wir suchen Menschen, die anders denken“ – so erklärte Personalchefin Luisa Delgado am Dienstag die ungewöhnlichen Pläne des Softwarekonzerns SAP. In den kommenden Jahren will das Unternehmen mit Hauptsitz im baden-württembergischen Walldorf Hunderte von Autisten einstellen. Konkret sollen bis 2020 mindestens 650 Menschen mit Autismus zu Softwaretestern, Programmierern und Spezialisten für Datenqualitätssicherung ausgebildet werden, sagte ein SAP-Sprecher am Dienstag in Walldorf. Das entspräche etwa einem Prozent der aktuell 65 000 Beschäftigten – genau so hoch wird der Anteil von Autisten in der Gesamtbevölkerung geschätzt. An den Konzernstandorten in Indien und Irland sei das Projekt bereits gestartet, hieß es. In Indien hat SAP eigenen Angaben zufolge sechs Autisten unter Vertrag gebracht. In Irland sollen jetzt fünf weitere folgen. Noch 2013 werde das Projekt dann auf Deutschland, Kanada und die USA ausgeweitet.

Autisten gelten als Schwerbehinderte

Autisten sind Menschen mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung. Sie gelten als Schwerbehinderte. Informationen werden in ihrem Gehirn anders verarbeitet als gewöhnlich. Das führt zu Schwächen in der Kommunikation und psychomotorischen Auffälligkeiten. Dafür sind Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Gedächtnis bei ihnen sehr stark ausgeprägt.

Für SAP sei das eine Chance, im weltweiten Kampf um talentierte Mitarbeiter besonders spezialisierte Menschen zu finden, sagt Anka Wittenberg, die im Konzern für Vielfalt und Integration zuständig ist. Die Walldorfer arbeiten mit der dänischen Initiative „Specialisterne“ zusammen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, eine Million Autisten in ein Anstellungsverhältnis zu bringen. Wie viele Arbeitsplätze für IT-Spezialisten mit Autismusbei SAP in Deutschland bis 2020 geschaffen werden, steht noch nicht fest.

In der Bundesrepublik müssen Unternehmen mit einer Größe ab 20 Angestellten mindestens fünf Prozent Schwerbehinderte beschäftigen und sonst eine Strafabgabe zahlen. Laut Arbeitsagentur lag die Quote mit vier Prozent zuletzt unterhalb der Vorgabe. Angesichts eines sich abzeichnenden Fachkräftemangels appellieren Initiativen wie die „Charta der Vielfalt“ unter Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin verstärkt, auch Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt zu integrieren.

SAP ist nun das erste Dax-Unternehmen, das sich im großen Stil um Menschen mit Autismus bemüht. „Meist läuft es über die Eigeninitiative von Angehörigen“, sagt Matthias Dalferth, Professor für angewandte Sozialwissenschaften in Regensburg. Die meisten Autisten lebten von Hartz IV, „nur fünf bis sechs Prozent fassen in der Arbeitswelt Fuß“.

In der Gruppe mit dem Asperger-Syndrom, einer milderen Form des Autismus, liegt der Anteil immerhin bei 20 Prozent. „Mit der richtigen Förderung könnte die Zahl dreimal so hoch sein“, glaubt Dalferth.

„Der IT-Bereich ist ein großes Arbeitsgebiet für Autisten“, sagt Friedrich Nolte, Fachreferent des Bundesverbands zur Förderung von Menschen mit Autismus. „Akribie und logisches Denken sind hervorstechende Eigenschaften.“

In Berlin stellt das Unternehmen Auticon seit 2011 gezielt Asperger-Autisten ein, um Software für große Firmen zu testen. Firmengründer Dirk Müller-Remus hat selber einen Sohn mit Asperger-Syndrom und durch ihn erkannt, welche seltenen Fähigkeiten Menschen wie er in ein Unternehmen einbringen können.

Auch in Bibliotheken und Archiven könnten sie Erfolge erzielen

Seiner Meinung nach könnten Autisten auch im sprachlichen und musischen Bereich große Erfolge erzielen – sofern die Rahmenbedingungen stimmen. Soziologe Dalferth sieht in Bibliotheken und Archiven weitere Einsatzmöglichkeiten. „Sie brauchen eine genaue Tagesstruktur, klare Abläufe, klare Vorgaben.“ Manche Autisten reagieren sehr sensibel auf Geräusche – auf solche Besonderheiten müssen Firmen vorbereitet sein. Deshalb will SAP künftig Job-Coaches einsetzen, die vermitteln und die Arbeitsplätze richtig einrichten. Auticon hat das von Anfang an praktiziert.

Sie schulen auch die Kollegen. „Autisten verstehen keine implizite Kommunikation“, sagt Nolte. Frage ein Vorgesetzter einen Autisten, der zu spät komme, ob er gut geschlafen habe, werde der wahrheitsgemäß antworten.
Genau darin sieht SAP-Integrationsbeauftragte Wittenberg einen weiteren Vorteil – welcher Angestellte ist schon immer ehrlich. (mit dpa, AFP)

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