Chancen und Risiken der Digitalisierung: Runter von der Überholspur
Die Digitalisierung bietet viele Chancen. Doch nur ein umsichtiger Wandel macht die vernetzte Welt auch zu einer besseren.
„Die Digitalisierung ist das mächtigste Werkzeug, um die Kaskade von Problemen der Menschheit zu lösen“, schrieben die Macher des Blogs „Gründerszene“ im Jahr 2016. Ihr leidenschaftliches Plädoyer war eine Replik auf das Buch „Die smarte Diktatur“ von Harald Welzer. Der Soziologe und Sozialpsychologe vertritt darin die These, dass eben diese Probleme nicht einmal im Ansatz mit den Mitteln der Digitalisierung zu bewältigen seien – sondern im Gegenteil durch sie verschlimmert würden.
Was ist nun richtig: Ist die Digitalisierung eine große Chance oder ein großes Risiko für unsere Gesellschaft? Kann ihr viel gepriesenes „Disruptionspotenzial“ dazu beitragen, die Welt von morgen sozial gerechter und nachhaltiger zu machen?
Schauen wir zunächst auf die ökologischen Chancen und Risiken der digitalen Transformation. Hier dürfen die hohen Ressourcen- und Energieverbräuche für die Herstellung der Hardware nicht unter den Tisch fallen. Allein für die Produktion der rund sieben Milliarden Smartphones, die in den zehn Jahren seit Einführung des ersten iPhones 2007 auf den Markt kamen, wurden schiere 38.000 Tonnen Kobalt, 107.000 Tonnen Kupfer, 157.000 Tonnen Aluminium und tausende Tonnen weiterer Materialien verbaut, die teils unter erbärmlichen Sozial- und Umweltstandards in Konfliktregionen des globalen Südens abgebaut werden. Doch Smartphones sind ja nur ein Device unter vielen. Und auch Aufbau und Betrieb der digitalen Infrastrukturen fallen ins Gewicht – all die Datenkabel, Serverparks und Rechenzentren, die wir nie zu sehen bekommen, die uns den Zugang zum Internet aber erst ermöglichen.
Digitalisierung ist nicht per se nachhaltig
Später, bei der Nutzung, fressen digitale Geräte dann vor allem Strom. Der Verbrauch des Internets beläuft sich bereits heute auf rund sieben Prozent der weltweiten Stromnachfrage und könnte bis zum Jahr 2030 auf 30 oder gar 50 Prozent ansteigen – je nachdem, wie stark wir unser Leben und unsere Wirtschaft durchdigitalisieren. Wollten wir die rund 2500 Terrawattstunden Stromverbrauch aller Informations- und Kommunikationstechnologien mithilfe stromerzeugender Heimtrainer – sogenannter Pedelecs – decken, müssten alle gut sieben Milliarden Erdenbürger in drei aufeinanderfolgenden Acht-Stunden-Schichten rund um die Uhr in die Pedale treten. Immerhin, da damit der Strom fürs Internet gedeckt würde, könnten wir währenddessen unsere Tablets zücken.
Die materielle Basis von Bits und Bytes ist also per se erst einmal nicht nachhaltig. Doch es stellt sich die spannende Frage: Kann die Anwendung digitaler Tools vielleicht helfen, unseren Energieverbrauch so zu optimieren, dass er auf ein nachhaltiges Niveau zurückgeht?
Hier zeigen sich zunächst etliche Chancen. Das Streaming von Filmen beispielsweise kann gegenüber dem DVD-Verleih bis zu ein Drittel Energie sparen. Carsharing kann dazu führen, dass bis zu 90 Prozent unserer Blechkarossen stehenbleiben, weniger Staus und Stop-and-Go-Verkehr herrschen und Sprit gespart wird. Läuft die Heizung in der Wohnung nicht auf Dauer, sondern wird mit einer automatisierten Steuerung an die Nutzungsmuster der Bewohner angepasst, kann rund ein Drittel der Heizenergie gespart werden. Wenn wir sie klug einsetzen, kann die Digitalisierung also eine wahre Effizienzrevolution auslösen.
Effiziente Technologien verleiten zu mehr Konsum
Dennoch hat die Sache einen Haken. Denn gerade die Effizienz digitaler Technologien birgt das Risiko, wieder neue Möglichkeiten für Wachstumssteigerungen zu eröffnen, welche die Einsparpotenziale rasch wieder zunichtemachen. Weil etwa das Streamen von Filmen so günstig und unkompliziert ist, steigt der Filmkonsum im Netz rapide. Effizienzpotenziale durch Sharing im Verkehrssektor können durch Nachfragesteigerungen ebenfalls aufgefressen werden. Denn auch in der digitalen Zukunft wird die alte Regel gelten: je schneller und billiger der Verkehr, desto mehr Kilometer werden gefahren. So zeigen Studien: Sollten selbstfahrende Carsharing-Systeme die Massenverkehrsmittel verdrängen, könnte der Verkehr in den Städten um bis zu 40 Prozent zunehmen. Und die Heizungssteuerung lässt sich zwar digital optimieren, doch wenn unzählige neue Gadgets fürs vernetzte Zuhause angeschafft werden – vom Smart-TV über Alarmsensoren und Shopping-Assistenten bis zum schlauen Kühlschrank – können Smarthome-Systeme insgesamt weit ressourcenintensiver sein als die gute alte Gasetagenheizung.
Was muss geschehen? Damit der ökologische Fußabdruck digitaler Geräte und Infrastrukturen nicht durch die Decke wächst, muss die Digitalisierung viel stärker durch kluges Design, umsichtige Nutzung und eine gestaltende Digitalpolitik gelenkt werden. „Digitale Suffizienz“ könnte dabei das Leitprinzip sein, nach dem Motto: so viele digitale Geräte und so viel Vernetzung wie nötig, doch so wenig wie möglich.
Die Einkommensschere wird weiter auseinandergehen
Allerdings: Keine digital eingesparte Tonne CO2 wird die Gesellschaft von morgen nachhaltig machen, wenn damit nicht auch ein Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit einhergeht. Welche Auswirkungen hat also die Digitalisierung auf Arbeitsplätze, Einkommensverteilung und Wirtschaftsstrukturen?
Zahllose Verlautbarungen aus Politik und Wirtschaft preisen sie als Garant für zukünftige Teilhabe und Wohlstand. Das Bundeswirtschaftsministerium, die Unternehmensplattform Industrie 4.0, Beratungsfirmen wie Accenture oder McKinsey – sie alle erklären Big Data, Künstliche Intelligenz und das Internet der Dinge zu den großen Wachstumsmotoren der kommenden Jahrzehnte. Doch ein Blick auf wissenschaftliche Szenarien macht skeptisch, ob dieses Versprechen wirklich einzuhalten ist.
Die Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen betrifft alle Berufsgruppen
Digitale Innovationen werden sich anders auswirken als vorherige Wellen technologischer Entwicklung. Die Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen kommt viel schneller als etwa zu Zeiten des Ausbaus der Eisenbahn oder der Einführung des Stroms im 19. Jahrhundert. Es brauchte Jahrzehnte, um Eisenbahntrassen durchs Land zu verlegen; Apps hingegen lassen sich in wenigen Sekunden installieren. Verschiedene Studien sagen dann auch voraus, dass allein in den nächsten zwei Jahrzehnten netto – also unter Anrechnung neu entstehender Jobs – zwischen zwölf und mehr als 40 Prozent der Arbeitsplätze in Deutschland verlorengehen könnten.
Ein zweiter wichtiger Unterschied: Die Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen durch Digitalisierung betrifft nicht nur – wie zur Frühindustrialisierung – zunächst das Handwerk der Weber, dann später jenes der Bauern oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Fabrikarbeiter. Es betrifft alle Berufsgruppen – vom Busfahrer bis zur Buchhalterin, vom Postbeamten bis zur Professorin.
Drittens, und das ist größte Herausforderung: Die Jobs, die mit der Digitalisierung entstehen, werden nur zu einem kleinen Teil im Hochlohnbereich liegen, zum Beispiel bei Programmiererinnen oder IT-Ingenieuren. Die große Mehrheit wird im Niedriglohnsektor angesiedelt sein, bei Lieferdiensten, in den Lagerhallen der Shopping-Plattformen oder in Form von Gelegenheitsjobs für Clickworker.
Vom Fortschritt müssen viele profitieren
All das wird dazu führen, dass die Einkommensschere durch die Digitalisierung weiter auseinandergeht. Wird hier nicht gegengesteuert, entsteht ein digitaler Neofeudalismus, bei dem sich einige wenige – die Macherinnen und Besitzer der Roboter und Algorithmen – zu Lasten der großen Mehrheit bereichern.
Sollen hingegen möglichst viele Menschen an den Früchten des technischen Fortschritts teilhaben, muss die Digitalisierung klar gemeinwohlorientiert gestaltet werden. „Kollaborativ statt kapitalistisch“ könnte das Motto lauten – und nach Maßnahmen rufen, die die Automatisierungs- und Plattformgewinne der digitalen Player so öffnen und umverteilen, dass die breite Bevölkerung daraus Nutzen zieht. Digitale Tools bieten vielfältige Chancen, um Menschen zu ermächtigen, nachhaltiges Produzieren und Konsumieren zu fördern und dezentrale, demokratische Wirtschaftsstrukturen zu schaffen. Über gute Sharing-Modelle können wir Bohrmaschinen, Autos oder unser Wissen teilen. Dank Digitalisierung kann jeder zum „Prosumenten“ werden – zum Konsumenten, der gleichzeitig Produzent ist –, um selbstgenähte Kleidung oder auf dem eigenen Dach erzeugten Solarstrom feilzubieten.
Nicht nur Geheimdienste, auch digitale Konzerne brauchen verbindliche Regeln
Leider ist der Trend der vergangenen Jahre ein entgegengesetzter. Riesige Mengen Kapital sammeln sich bei wenigen Firmen, die große Plattformen und Programme entwickeln. Sechs der zehn größten Weltkonzerne sind digitale Player – neben dem Giganten Microsoft seit einigen Jahren auch Apple, Google, Facebook, Amazon und der chinesische Konzern Tencent. Diese Firmen akkumulieren nicht nur große wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Macht: Sie verfügen über das Wissen, die Daten und die medialen Räume, mit denen in Gesellschaft und Politik Diskussionen geführt und Entscheidungen getroffen werden.
Der Missbrauch des Datensammelns durch digitale Konzerne ist ein Angriff auf Demokratie und Meinungsfreiheit, und er hat überdies verheerende Folgen für die Umwelt. Das wird deutlich, wenn man sich das gängige Geschäftsmodell dahinter ansieht: All die Informationen, die Nutzer im Netz hinterlassen, werden von Google, Facebook und den großen Datenkraken der Werbeindustrie ausgewertet, um maßgeschneiderte Reklame auszuspielen. Das trägt Früchte: Die Umsatzzahlen beim Onlineshopping wachsen jährlich im zweistelligen Bereich, während der Konsum im stationären Einzelhandel noch nicht einmal zurückgeht. Wenn aber das hohe Konsumniveau in Ländern wie Deutschland nicht noch weiter steigen, sondern mittels klugem Sharing, Prosuming und Gebrauchthandel nachhaltig sinken soll, ist konsequenter Datenschutz ratsam. Nicht nur Geheimdienste, auch digitale Konzerne brauchen verbindliche Regeln, die dem Speichern, Auswerten und Weitergeben persönlicher Daten enge Grenzen setzen.
Jetzt ist der Zeitpunkt, um zu fragen: Welche Digitalisierung wollen wir eigentlich? Diese Frage kann nicht von Ingenieuren oder Technikern beantwortet werden, sie muss in der Gesellschaft diskutiert werden. Und die Politik muss durch kluge Regulierung zu einer gerechten, nachhaltigen Entwicklung beitragen. Um das zu ermöglichen, muss Tempo herausgenommen werden. Nur eine sanfte Digitalisierung kann sicherstellen, dass die vernetzte Gesellschaft von morgen zugleich eine freiere, gerechtere und umweltfreundlichere Gesellschaft ist.
Der Autor ist Professor für sozial-ökologische Transformation und nachhaltige Digitalisierung am Einstein Centre Digital Future (ECDF) und an der Technischen Universität Berlin. Im Februar erschien sein Buch „Smarte grüne Welt? Digitalisierung zwischen Überwachung, Konsum und Nachhaltigkeit“ mit Steffen Lange im Oekom Verlag.
Tilman Santarius