Gesetzesvorhaben der Bundesregierung: Musterfeststellungsklage kommt für VW-Kunden gerade noch rechtzeitig
Verbraucher können sich bald leichter zusammenschließen, um Schadenersatz von Produktherstellern oder Dienstleistern zu erstreiten. Die Regelung soll noch in diesem Jahr in Kraft treten.
Der wochenlange Streit über bessere Klagemöglichkeiten für Verbraucher ist beigelegt. „Die Musterfeststellungsklage kommt am Mittwoch ins Kabinett. Union und SPD sind sich in der Sache einig“, sagte der rechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Johannes Fechner, dem Tagesspiegel. „Wir werden das Ziel, das wir im Koalitionsvertrag festgelegt haben, erreichen: Am 1. November tritt die Musterfeststellungsklage in Kraft“, kündigte der SPD-Politiker an.
Die Musterfeststellungsklage soll in Deutschland geschädigten Verbrauchern erstmals die Möglichkeit geben, gemeinsam vor Gericht auftreten zu können. Die Idee: Sind in einem Fall viele Kunden betroffen, so sollen ausgewählte Verbände vor Gericht wichtige Rechtsfragen klären lassen können. Preiserhöhungen von Banken oder Gaslieferanten könnten mögliche Fälle sein, aber auch unfaire Vertragsklauseln von Reiseveranstaltern oder Airlines. Betroffene Verbraucher müssten sich in einem Klageregister eintragen und könnten dann ohne eigene Klage ihre Ansprüche vor Verjährung schützen und klären. Das hätte zahlreiche Vorteile: Das Prozessrisiko für die Verbraucher würde sinken, und die Justiz würde entlastet.
Bisher bündeln nur kommerzielle Prozessfinanzierer die Ansprüche
Noch sieht es anders aus in deutschen Gerichtssälen, wie vor allem VW-Kunden seit einiger Zeit leidvoll erfahren müssen. Während der deutsche Autobauer in den USA auf Grund von Sammelklagen hohe Entschädigungen zahlt, müssen in Deutschland Verbraucher ihre Ansprüche individuell einklagen und tragen das volle Prozessrisiko. Zwar gibt es mit dem Prozessfinanzierer „MyRight“ und einer holländischen Stiftung Alternativen, doch solche Modelle sind in Deutschland noch eher ungewohnt – und wegen der teilweise hohen Provisionen für die Kläger teuer.
VW, das ist schon jetzt klar, wird der erste Fall für die neue Musterfeststellungsklage sein. Verbraucherschützer stehen bereits in den Startlöchern, um den Autokonzern wegen seiner Dieselmanipulationen zu verklagen. Aber sie müssen sich beeilen. Denn viele Ansprüche verjähren am 31. Dezember dieses Jahres. Die Musterfeststellungsklage verhindert die Verjährung – muss aber deshalb rechtzeitig zum 1. November in Kraft treten. „Niemand will die Deadline reißen und einen Sturm der Entrüstung nach sich ziehen“, sagte der Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen (VZBV), Klaus Müller, dem Tagesspiegel. Auch SPD-Politiker Fechner ist überzeugt, dass der Zeitplan zu halten ist. Im Juni soll das Gesetz vom Bundestag beschlossen werden. „VW-Kunden werden mit der Musterfeststellungsklage davor geschützt, dass ihre Ansprüche am Jahresende verjähren“, ist Fechner zuversichtlich.
Anders als bei Sammelklagen nach US-Muster halten die Verbraucher bei der Musterfeststellungsklage am Ende kein Urteil in Händen, das ihnen einen Ersatzanspruch in Euro und Cent bescheinigt. „Wir haben uns für die Musterfeststellungs- und gegen eine Sammelklage entschieden, weil sonst ein Richter nicht nur über die Rechtmäßigkeit der Ansprüche, sondern auch über die zahlenmäßige Höhe der vielen einzelnen Ansprüche hätten entscheiden müssen. Das wäre ein enormer Aufwand gewesen“, gibt Fechner zu bedenken. Stattdessen klagen verbrauchernahe Verbände wie Verbraucherzentralen, Mietervereine oder der Bund der Versicherten, um die Rechtslage gerichtlich feststellen zu lassen.
Union will keine "Klageindustrie" wie in den USA
Was einfach klingt, war jedoch schwieriger als gedacht. Denn die Frage, welche Verbände klagebefugt sein sollen, wurde in den politischen Verhandlungen zum Problem. Die Wirtschaft hatte Angst vor einer Klagewelle und warnte davor, dass Prozessfinanzierer einen Verband kapern und am laufenden Band Musterfeststellungsklagen einreichen könnte. Auch die Union hatte Bedenken. „Eine Sammelklage wie in den USA mit ihrer Klageindustrie lehnen wir ab“, hatte Lisa Winkelmeier-Becker, Sprecherin der Unionsfraktion für Recht und Verbraucherschutz, noch im April dem Tagesspiegel gesagt. „Wir wollen die kollektive Durchsetzung von Verbraucherrechten verbessern, aber damit kein Geschäftsmodell für Kanzleien oder Verbände und Abmahnvereine schaffen.“
Das scheint jetzt gelungen zu sein. Man habe eine Lösung gefunden, die garantiert, dass nur qualifizierte Einrichtungen und Verbände klagen können, berichtet SPD-Politiker Fechner. „Die Befürchtung der Wirtschaft und der Union, dass US-Großkanzleien mit dem neuen Instrument Geschäfte machen können, hat sich damit erledigt.“ Einzelheiten will das Bundesjustizministerium in dieser Woche mitteilen.
Die Musterfeststellungsklage ist eine Herzensangelegenheit der SPD. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode hatte der damalige Bundesjustizminister Heiko Maas das Projekt über die Bühne bringen wollen, war aber am Bundeskanzleramt und dem damaligen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) gescheitert, der Volkswagen vor einer Klageflut wegen der Abgasmanipulationen beschützen wollte.
Obwohl die Musterfeststellungsklage im schwarz-roten Koalitionsvertrag vereinbart ist, drohte sie auch dieses Mal, erneut Opfer der innerkoalitionären Großwetterlage zu werden. Das Bundeskanzleramt und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) traten erneut auf die Bremse. Seehofer wollte den Entwurf erst passieren lassen, nachdem eine Einigung über den Familiennachzug von Geflohenen gefunden worden ist. Die liegt jetzt auf dem Tisch, und der Weg ist frei für die neue Verbraucherklage.