VW-Vorstand Andreas Renschler: „Kulturen ändert man nicht über Nacht“
Der Volkswagen-Vorstand Andreas Renschler spricht im Tagesspiegel-Interview über zwei Jahre Diesel-Krise, E-Busse und den Tesla-Lkw.
Herr Renschler, haben Sie auf der IAA Martin Winterkorn und Ferdinand Piëch vermisst?
Ich habe keine so enge Beziehung zu beiden Herren, dass ich sie vermissen würde.
Heute vor zwei Jahren hat Volkswagen den Diesel-Betrug öffentlich gemacht. Sie waren gerade ein halbes Jahr in Wolfsburg. Wie sehr hat Sie die Nachricht getroffen?
Es war für mich genauso überraschend wie für andere auch. So etwas kann man sich gar nicht vorstellen. Es ging zunächst darum, den Schock zu überwinden – und dann sofort die richtigen Maßnahmen einzuleiten. Das Thema hat ja die gesamte Branche durchgeschüttelt.
Wie weit ist Volkswagen heute mit der Aufarbeitung?
2016 und 2017 sind wir wichtige Schritte vorangekommen. Entscheidend ist, dass bei uns ein Kulturwandel stattfindet. Und glauben Sie mir, der findet statt. Aber ein solcher Prozess braucht natürlich Zeit. In der Öffentlichkeit wird gerne gefordert, dass es schneller gehen möge. Aber Kulturen ändert man nicht über Nacht.
Zumal, wenn sie von dominanten Führungspersönlichkeiten wie Piëch und Winterkorn geprägt sind.
Es hängt nicht nur an Personen. Natürlich war Volkswagen über Jahre hinweg ein vom Erfolg verwöhntes Unternehmen. Herr Piëch und Herr Winterkorn haben den Konzern groß gemacht. Es ist müßig, darüber nachzudenken, ob das noch in die heutige Zeit passen würde. Heute sieht unser Vorstand jedenfalls anders aus als 2015. Das, was in zwei Jahren im Konzern passiert ist, wäre auch ohne die Diesel-Krise und den Wechsel an der Spitze notwendig gewesen. Es wäre nur noch schwieriger geworden.
Die Krise als Chance?
Ja, es hat uns geholfen, den Wandel schneller einzuleiten. Es geht nicht nur um Kultur, sondern auch um Themen wie Digitalisierung, alternative Antriebe. Wir haben in kurzer Zeit viel geschafft: Volkswagen hat die neue Strategie „Together 2025“ aufgesetzt, die Nutzfahrzeug- Holding ist entstanden, es gibt den Zukunftspakt mit den Beschäftigten, und auf der IAA haben wir große Investitionen in die Elektromobilität angekündigt.
Die öffentliche Diskussion um Diesel und Verbrennungsmotor hat sich trotzdem zugespitzt. Wie ernst müssen Sie drohende Fahrverbote nehmen?
Ich bin ganz klar gegen Verbote. Wir brauchen eine faktenorientierte Debatte. Euro-6-Nutzfahrzeuge und -Busse haben mit der SCR-Abgasreinigung mit AdBlue- Harnstoff kein NOx-Problem mehr.
Aber sie sind den Kommunen zu teuer.
Natürlich sind moderne Fahrzeuge etwas teurer. Eine Abgasnachbereitungsanlage in einem Bus kostet 10 000 Euro, das ist eine kleine Chemiefabrik. Der Vorwurf, wir hätten keine sauberen Fahrzeuge im Angebot, trifft aber nicht zu – es ist bislang nur nicht auf so wahnsinnig viel Interesse gestoßen.
Nach dem Diesel-Gipfel sind Städte und Kommunen aufgerufen, ihre Flotten zu erneuern. Das wird sogar gefördert.
Wir können liefern. Alle Scania-Motoren können Bio-Diesel tanken. MAN hat einen Marktanteil bei gasbetriebenen Bussen von 39 Prozent. Der erste elektrische Crafter-Transporter wird ausgeliefert. In Österreich werden Ende des Jahres neun elektrische MAN-Verteiler-Lkw übergeben. Die ersten E-Busse von MAN und Scania laufen 2019 in Serie an.
Reichlich spät. Verkehrsbetriebe wie die BVG in Berlin beklagen, dass es nicht heute schon deutsche Fabrikate gibt.
Sie bekommen alle Busse, die sie brauchen. Was bringen aber Elektrobusse oder E-Transporter, wenn man sie nicht aufladen kann? Wir brauchen die entsprechende Infrastruktur. Das Netz an Ladestationen muss dringend entlang der Logistikketten ausgebaut werden. Das ist aber nicht Aufgabe der Fahrzeughersteller.
Sähe die Branche nicht viel besser aus, wenn deutsche E-Busse schon heute unterwegs wären?
Das kann man so sehen. Vielleicht waren die deutschen Hersteller auch zu langsam. Kann sein. Die Verkehrsbetriebe wollen aber sicher keine Elektrobusse, die im Winter liegen bleiben, oder? Wer schnell sein will, muss auch gut und zuverlässig sein können. Was bringt einem ein Bus mit Schulkindern, der steht?
Wie konnte es passieren, dass die Deutsche Post Ihnen zeigen musste, wie man einen Elektro-Transporter baut?
Der Streetscooter ist ein Konzept in einem speziellen Markt, den die deutschen Hersteller gar nicht bedienen.
Warum nicht? Die Nachfrage ist groß.
Gute Frage. Manchmal hilft es, wenn andere Ideen haben und die Großen antreiben. Ich freue mich über jede gute Idee. Das belebt das Denken. Wichtig sind bei einer Serienproduktion, wenn Sie das Fahrzeug verkaufen wollen, vor allem Qualität und Zuverlässigkeit.
Tesla wird Ende Oktober einen batteriebetriebenen Sattelschlepper präsentieren. Nehmen Sie das ernst?
Natürlich nehmen wir das ernst. Tesla hat wichtige und gute Impulse in der Industrie gesetzt. Als Hersteller mit traditionell gewachsenem Kundenstamm spielen wir eher die Rolle des Second Mover – der lieber zwei Mal mehr schaut, ob die Standards stimmen. Das kann man gut oder schlecht finden.
Werden Lkw noch mit Diesel-Motoren fahren, wenn die Pkw-Welt elektrifiziert ist?
Jein. Der Verbrenner wird für den Nutzfahrzeugmarkt immer eine Rolle spielen, vor allem für den Schwerlastverkehr oder auf Baustellen. Aber im Verteiler- und Personenverkehr wird die Elektrifizierung schneller gehen.
Die öffentliche Aufmerksamkeit gilt vor allem dem Pkw-Geschäft. Hat Ihnen das mehr Freiheiten verschafft?
Das Nutzfahrzeuggeschäft macht gut 20 Milliarden Euro Umsatz, der Volkswagen-Konzern insgesamt mehr als 200 Milliarden Euro. Dies zeigt, wo die Prioritäten liegen. Es ist meinem Team und mir gelungen, den Pkw-Kollegen zu vermitteln, was das Spezifische am Nutzfahrzeuggeschäft ist. Das kann man nicht so steuern wie die Pkw-Sparte. Wenn wir 100 000 Fahrzeuge verkaufen, ist das viel. Wenn die Marke VW 100 000 Pkw verkauft, ist das wenig.
Warum braucht ein Autokonzern überhaupt Lkws?
Gegenfrage. Warum sollte er die nicht brauchen? Wir sind ein Mobilitätskonzern. Und wir haben eben MAN, Scania und die VW Nutzfahrzeuge. Nun gilt es, daraus einen globalen Champion zu machen. Das treiben wir voran.
Und dann wird es verkauft oder an die Börse gebracht? Matthias Müller hat angedeutet, dass der Konzern über den Verkauf von Teilen nachdenkt.
Wir wollen die profitabelste Nutzfahrzeuggruppe der Welt werden. Die Teile müssen sich dabei zu einem Ganzen fügen und wachsen. Daran arbeiten wir. Wir halten uns natürlich alle Optionen offen. Man sagt immer erst A, bevor man B sagt.
Wann gibt es den ersten Lkw, der einen Motor, Komponenten und Achsen hat, die aus dem gemeinsamen Baukasten von MAN und Scania stammen?
2020 sind wir so weit. Es kommt ja auch noch Navistar hinzu, unser neuer Allianzpartner in den USA. Auch hier gibt es einen Technologietransfer. So verwendet Navistar bereits einen von MAN entwickelten Motor. Die Projekte sind definiert und aufgesetzt. Aber im Nutzfahrzeuggeschäft dauert ein Entwicklungszyklus bis zu einem neuen Modell gut zehn Jahre.
Das Nutzfahrzeuggeschäft ist auch ein Frühindikator für die Konjunktur. Wo wird es in den kommenden Jahren gut laufen?
Das Wachstum kommt aus den Emerging Markets, wo die Infrastruktur erst im Aufbau ist. In Indien liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit eines Lkw bei zwölf Stundenkilometern. Dort können sie kein europäisches Lkw-Modell verkaufen. In China entwickelt sich der Markt und die Infrastruktur schneller, weil zum Beispiel Internethändler auf die schnelle und pünktliche Auslieferung angewiesen sind. In Südamerika, wo wir Marktführer sind, kommt vor allem Brasilien langsam aus der dramatischen Krise.
Verkehrspolitisch hatten Sie vier schöne Jahre: Es sind mehr Güter auf der Straße transportiert worden, zugleich sind die Spritpreise und die Lkw-Maut gesunken.
Das hat man am Markt nur leider nicht gemerkt. Wenn es so wäre, wäre er ja explodiert, was nicht der Fall ist. Jeder Logistikunternehmer wird beides machen. Es gibt Güter, die gehören auf die Schiene, und es gibt welche, die haben nur auf dem Lkw eine Chance. Wir werden die wachsenden Güterverkehrsströme nicht bewältigen, wenn wir nur den einen Verkehrsweg wählen. Gewählt wird, was am effizientesten ist.
Was wünschen Sie sich von der künftigen Verkehrspolitik?
Wir brauchen dringend einen weiteren Ausbau der Infrastruktur: der digitalen und der Straßen- und Ladeinfrastruktur. Und die Verkehrswende muss Hand in Hand mit der Energiewende kommen. Sonst werden saubere E-Busse weiter mit Strom aus Kohlekraftwerken geladen.
Andreas Renschler sitzt seit 2015 im Volkswagen-Vorstand. Der VW-Konzern hatte den gebürtigen Stuttgarter mit einer Extra-Prämie von mehr als elf Millionen Euro von Daimler abgeworben. Dort war Renschler viele Jahre tätig, zunächst als Nutzfahrzeug-Vorstand, dann als Produktions- und Einkaufsvorstand für Mercedes. Von 1999 bis 2004 führte er die Kleinwagen-Sparte Smart. 1993 baute er das Mercedes-Werk in den USA auf. Renschler, der Diplome als Wirtschaftsingenieur und als Kaufmann hat, ist Vorsitzender des Lateinamerika- Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. Das Gespräch führte Henrik Mortsiefer.