Reform des Wahlrechts: Kann eine Obergrenze für den Bundestag funktionieren?
709 Abgeordnete hat der Bundestag. Union und SPD wollen eine Höchstzahl an Mandaten einführen. Ein Politikwissenschaftler aber sieht Widersprüche.
Obergrenze lautet das neue Zauberwort. Union und SPD wollen, das wurde in der vorigen Woche in der Aktuellen Stunde des Bundestags zur Wahlrechtsreform deutlich, die Abgeordnetenzahl beschränken. Carsten Schneider, der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, schlug vor, „dass es eine Begrenzung nach oben gibt, einen Deckel, der bei einer Größenordnung liegt, die geringer ist als die jetzige Anzahl der Bundestagsabgeordneten“. Der CDU-Abgeordnete Philipp Amthor sagte, es sei „sinnvoll, über einen Deckel nachzudenken“ – er könne aber nicht „unkonditioniert“ sein.
Aus Sicht der CSU lässt sich das Problem des zu großen Bundestags nur lösen, „wenn Sie den Menschen für die Wahl eine deutliche Höchstgrenze versprechen, wenn Sie auch sagen können, wie viele Mandate der Deutsche Bundestag am Ende des Tages wirklich haben wird“, wie es der Christsoziale Michael Frieser formulierte.
Derzeit ist die Größe des Bundestags nach oben offen. Aktuell hat er 709 Abgeordnete, das sind – wegen Überhang- und Ausgleichsmandaten – 111 mehr als die gesetzliche Mindestgröße von 598 Sitzen. Nach aktuellen Umfragen sind auch mehr als 800 Mitglieder möglich. Eine Einigung ist den Fraktionen bisher nicht gelungen, am 10. Februar soll es nochmals eine große Runde geben. Aber eigentlich ist für größere Änderungen gar keine Zeit mehr, denn im Frühjahr beginnen die Vorbereitungen für die nächste reguläre Wahl im Herbst 2021.
Vorschlag der Opposition abgelehnt
Den Vorschlag von FDP, Linken und Grünen, der vor allem auf eine geringere Wahlkreiszahl baut (250 statt 299), um das Problem der Überhänge in den Griff zu bekommen, lehnen Union und SPD ab – mit einigen Ausnahmen, zu denen der sozialdemokratische Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann gehört. Begründet wird die Ablehnung nicht zuletzt mit dem Argument, das Drei-Fraktionen-Modell könne nicht garantieren, dass der Bundestag nicht doch größer wird als bisher. Der Vorschlag der drei Oppositionsparteien macht das in der Tat nur deutlich weniger wahrscheinlich als das geltende Wahlrecht.
Von der AfD wurde die Kappungslösung ins Gespräch gebracht – im Fall von Überhängen würden Direktmandate der überhängenden Partei gestrichen. Auch dafür gibt es keine Mehrheit, insbesondere in der CSU hält man die Kappung für nicht verfassungskonform. In den Koalitionsfraktionen sperren sich viele Abgeordnete dagegen, dass entweder Wahlkreise abgeschafft werden oder die Garantie des Direktmandats für den Wahlkreissieger beschnitten wird. Das ist kein Wunder: Die Unions-Fraktion besteht weitgehend aus Inhabern eines Direktmandats.
"Obergrenze ist Augenwischerei"
Ein Wahlrecht mit einer festen Obergrenze soll nun der Ausweg sein. Aber würde es tatsächlich immer funktionieren? Können Union und SPD wirklich garantieren, dass so das Ausufern der Mandatszahl stets verhindert werden kann, ohne mit der Verfassung oder mit Urteilen des Verfassungsgerichts zu kollidieren?
Der Politikwissenschaftler Joachim Behnke von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen hat Zweifel. Er hält das Deckelungsmodell für eine „Mogelpackung und reine Augenwischerei“, wie er dem Tagesspiegel sagte. Insbesondere die Union müsse dann zudem wesentliche Teile des Drei-Fraktionen-Vorschlags akzeptieren, eventuell sogar die Kappung bei Direktmandaten – also genau das, was bisher in der Koalition vehement zurückgewiesen worden ist.
Erst rauf, dann runter
Läge der „Deckel“ bei 680 Sitzen (und er müsste recht nahe an der jetzigen Größe liegen, um bei Erhalt aller 299 Wahlkreise überhaupt wirksam sein zu können), dann müsste bei jeder Bundestagsgröße, die darüber liegt, die überschüssige Mandatszahl wieder abgebaut werden. Das ginge nur über das Streichen von Listenmandaten, denn an die Direktmandate will man nicht heran.
Behnke hat ein Wahlergebnis angenommen, bei dem der Bundestag zwischen 760 und 790 Sitzen landen würde. Ausgelöst würde diese Größe durch mehr als 40 Überhangmandate der CDU (es wären also in einigen Bundesländern mehr Direktmandate angefallen, als die CDU überhaupt Sitzansprüche bei den Zweitstimmen hätte). Listenmandate hätte sie nur noch etwa zehn. Würde nun die überschüssige Mandatszahl (also 80 bis 110) proportional auf die Parteien verteilt und von deren Listen abgezogen, dann würden diese Listenmandate der CDU gar nicht reichen, um unter den Deckel zu kommen.
Unausgeglichene Überhangmandate?
Es blieben dann unausgeglichene Überhangmandate sozusagen stehen – laut Behnke könnten es mehr als 15 sein. Und das wäre nicht verfassungskonform, denn die Richter in Karlsruhe haben vor einigen Jahren in einer Entscheidung bei dieser Zahl die Grenze gezogen. Die 15 unausgeglichenen Überhänge gehören seither zum Forderungskatalog der Union, weil ihr das in der aktuellen Parteienkonstellation einen Vorteil beim der Sitzverteilung verschaffen würde.
Die Oppositionsparteien lehnen eine solche Verzerrung der Verhältniswahl ab, ob die SPD sie mitmacht, ist unklar. Jede Verringerung der Zahl der unausgeglichenen Überhangmandate würde das Einhalten einer Obergrenze noch schwieriger machen.
Der Unterschied: Ein höherer Preis
Behnkes Fazit: „Die einzige Möglichkeit, eine fixe Obergrenze zu garantieren, bestünde in der proportionalen Kappung aller Mandate aller Parteien, die über dieser Obergrenze liegen, also sowohl Direktmandate als auch Listenmandate.“ Er verweist darauf, dass eine Obergrenzenlösung zu ganz ähnlichen Mechanismen greifen müsse wie das von der Koalition abgelehnte Modell von FDP, Linken und Grünen, nur eben zu einem höheren Preis – also einer insgesamt höheren Abgeordnetenzahl. „Das Deckelungsmodell hat daher gegenüber dem Drei-Fraktionen-Modell keinen Vorteil und bringt nur weitere Nachteile mit sich“, sagt Behnke.
Der Wissenschaftler sieht in den Vorstellungen der Koalition auch eine Abkehr vom Ausgangsvorhaben, den Bundestag wieder zu seiner gesetzlichen Größe von 598 Mandaten zurückzuführen: „Die Größe von 680 oder 690 Sitzen für eine Obergrenze, die im Raum steht, illustriert vor allem, dass man sich vom ursprünglichen Ziel einer Verkleinerung des Bundestags endgültig verabschiedet hat und es nur noch um eine Vermeidung einer weiteren Vergrößerung über den aktuellen Zustand hinaus geht, der allerdings seinerzeit noch allgemein als inakzeptabel galt.“
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