Auszubildungsumfrage der IHK Berlin: Jeder dritte Betrieb bietet Nachhilfe an
Wegen Nachwuchsmangels gehen Unternehmen immer mehr Kompromisse ein. Unklare Berufsvorstellungen bilden aber die größte Hürde.
Das Hotel sah gut aus: Roter Teppich, große Kronleuchter, moderne Technik. Aber nach vier Wochen wollte Anne F. mit alldem nichts mehr zu tun haben – sie schmiss die Ausbildung zur Hotelfachfrau hin. „Zu anstrengend.“ Jetzt jobbt sie lieber wieder stundenweise bei einer großen Kaffeehauskette. „Da kann ich wenigstens ausschlafen und meine Eltern kriegen weiter das Kindergeld.“
Anne F.s Fall reiht sich ein in die steigende Tendenz unter Jugendlichen, nach Beginn ihrer Ausbildung ihre Verträge zu lösen. Jeder vierte Betrieb gab an, dass Ausbildungsplätze aus diesem Grund letztlich nicht besetzt waren; noch vor zehn Jahren war davon noch nicht einmal jede zehnte Stelle betroffen. Und der Fall passt zu einem weiteren Befund der diesjährigen Aus- und Weiterbildungsumfrage der Industrie- und Handelskammer (IHK), die dem Tagesspiegel vorliegt: Drei von vier Betrieben sagen, dass sie nicht ausbilden, weil die Jugendlichen „zu unklare Berufsvorstellungen haben“.
Und schließlich entspricht die Vorgehensweise der jungen Frau dem IHK-Umfrage-Befund, dass den Jugendlichen vor allem Leistungsbereitschaft, Motivation und Belastbarkeit zur Ausbildungsreife fehlen. Diese Mängel rangieren sogar vor den immer wieder zitierten sprachlichen und mathematischen Defiziten, die erst an dritter und fünfter Stelle im Problemranking folgen. An fehlenden Umgangsformen der Azubis schließlich stört sich mehr als jeder dritte Betrieb, und Disziplin vermisst jeder zweite.
Nur 3000 von 28.000 Absolventen begannen direkt eine duale Ausbildung
Viele Firmen wären allerdings schon froh, wenn sie überhaupt Bewerber hätten: Jeder sechste gibt an, dass überhaupt keine Bewerbungen vorlagen. Dieser Anteil hat sich seit 2008 nahezu vervierfacht. Der mit Abstand häufigste Grund für nicht besetzte Ausbildungsplätze ist allerdings, dass keine geeigneten Bewerbungen vorlagen, was auch mit dem demografischen Wandel zu tun hat: Zurzeit verlassen rund 3000 Jugendliche weniger die Schule als noch vor wenigen Jahren. In ganz Deutschland ist ein Schülerjahrgang seit 2007 um rund 120.000 Abgänger geschrumpft. Und von diesen Absolventen wollen immer weniger direkt in eine duale Ausbildung: Im Jahr 2016 waren es laut IHK nur 3000 von 28.000, die diesen Weg gingen.
In manchen Branchen kommt offenbar alles zusammen: wenig Bewerber, großer Bedarf und hohe Abbrecherquoten. Dies führt dann etwa dazu, dass im Gastgewerbe mehr als jeder zweite Betrieb nicht alle Ausbildungsplätze besetzen konnte – dicht gefolgt von den Branchen Transport/Logistik sowie Baugewerbe. Auch beim Handel gibt es große Schwierigkeiten, genügend Nachwuchs zu finden. Im Schnitt konnte jeder dritte Betrieb nicht alle Ausbildungsplätze besetzen.
Selbst die Banken und Versicherungen, die früher ein beliebtes Berufsziel waren – sowohl nach dem Mittleren Schulabschluss als auch nach dem Abitur – gehen jetzt immer öfter leer aus. Möglicherweise spielt dabei auch der Imageverlust nach der Bankenkrise oder die vielen Filialschließungen eine Rolle. Die geringsten Nachwuchssorgen hat derzeit die Medienbranche.
Jeder siebte Betrieb versucht es mit finanziellen Anreizen
Die Nöte der Unternehmen, genügend Nachwuchs heranzuziehen, sind nicht neu. Seit Jahren versuchen sie gegenzusteuern. Daher hat die IHK ihre Mitglieder auch gefragt, was sie konkret tun, um Jugendliche an sich zu binden. Dabei kam heraus, dass sich mehr als jeder zweite Ausbildungsbetrieb um die Erschließung neuer Bewerbergruppen kümmert – das können etwa Studienabbrecher sein oder auch Flüchtlinge. Jeder vierte Betrieb ist offen dafür, Flüchtlinge zu integrieren oder bildet bereits Flüchtlinge aus. Mehr als jeder dritte Betrieb greift zu einem verbesserten Ausbildungsmarketing oder bietet vermehrt Praktikumsplätze an. Andere Firmen kooperieren mit Schulen oder Hochschulen und bieten Auslandsaufenthalte an, um ihre Attraktivität zu steigern. Jeder siebte Betrieb ist bereit, über materielle Anreize das Nachwuchsproblem zu lösen.
Damit sie ihre Ausbildungsplätze besetzen können, sind die Betriebe auch zu einigen Kompromissen bereit, wenn den Jugendlichen elementares Schulwissen fehlt. Die IHK-Umfrage hat ergeben, dass jedes dritte Unternehmen inzwischen Nachhilfe anbietet. Allerdings sagt auch jedes vierte Unternehmen, dass er leistungsschwächere Schulabgänger nicht fördern kann. Das muss nicht unbedingt mit mangelnder Flexibilität zusammenhängen. Die Mehrzahl der Ausbildungsbetriebe beschäftigt nur einen bis vier Auszubildende, so dass sich keine aufwendigen Schulungen rechnen. In diesem Fall greift aber jeder siebte Betrieb zu ehrenamtlichen Mentoren oder Paten.
Wie schwer es selbst für Unternehmen wie große Hotels der Luxusklasse geworden ist, alle Plätze zu besetzen, lässt sich auch daran ablesen, dass etwa das Hotel Intercontinental Berlin noch vor fünf Jahren seine Ausbildungsplätze nicht einmal ausschreiben musste, inzwischen aber das ganze Jahr über werben muss, berichtet Personaldirektor Christian Siejock.
Ein verlässlicher Dienstplan ist wichtig für Jugendliche
„Früher haben wir gefragt, ob der Auszubildende zu uns passt. Heute fragen wir: Was können wir tun, damit wir zu ihm passen“, beschreibt Siejock den Wandel. Konkret bedeutet dies für ihn, dass der Betrieb auf die „geänderten Wertvorstellungen“ der Jugendlichen reagiert. „Sie wollen mehr Zeit für Privates und mehr Zeit für Soziales“, hat er beobachtet. Daraus folgt für ihn, dass er sich um einen verlässlichen Dienstplan bemüht. Zudem sei es wichtig, dass sich die jungen Leute gewertschätzt und in ihrem Team wohlfühlten. Einen Fall wie Anne F. gab es hier nicht: „Alle 65 Ausbildungsplätze sind besetzt“, kann Siejock verkünden.
Andere Betriebe sind offenbar weniger bereit, Kompromisse zu machen: Jeder zweite Auszubildende berichtet, dass er sich von seinem Arbeitgeber als billige Arbeitskraft ausgenutzt fühlt. Ebenso hoch ist der Anteil derer, die über Überstunden klagen. Das hatte im November eine Umfrage der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ergeben.
Angesichts der unklaren Berufsvorstellungen der Jugendlichen sagte IHK-Präsidentin Beatrice Kramm am Donnerstag, die Berufsorientierung und damit die Berufswahlkompetenz der Jugendlichen müsse gestärkt werden.
Die schulischen Bemühungen in diesem Bereich fruchten offenbar noch nicht: Viele Lehrer beobachten, dass Schüler zwar die verpflichtenden Berufspraktika absolvieren, allerdings dabei oftmals nicht die eigene Berufswahl im Auge haben, sondern nur "irgendwie" und zwar möglichst streesfrei die zwei bis drei Wochen "abhaken" wollen. Nicht selten greifen sie dabei auf Betriebe von Bekannten ihrer Eltern zurück, um umständliche Bewerbungsschreiben zu umgehen.
IHK-Appell an die Schulen
„Wenn die Politik das Ausbildungsengagement Berliner Wirtschaft erhöhen möchte, dann erwarten Unternehmen vor allem Unterstützung bei der Besetzung der von ihnen angebotenen Azubi-Plätze", sagte IHK-Präsidentin Beatrice Kramm weiter. Sie wies darauf hin, dass Berliner Unternehmen "große Hoffnungen in die neu gegründete Jugendberufsagentur setzen". Allerdings wird berichtet, dass die Jugendberufsagentur noch längst nicht so effektiv arbeitet, wie sich das die Betriebe, aber auch die Jugendlichen wünschen - und wie es das Hamburger Beispiel vormacht..
Im Hinblick auf die großen Defizite der Bewerber sagte Kramm, es sei aus Sicht der Unternehmen "nach wie vor unabdingbar, auch in der Schule den Erwerb von sozialen Kompetenzen wie Motivation und Leistungsbereitschaft sowie von Basiswissen in Mathematik und Deutsch weiter zu stärken.“
- bbbbbb
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