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Ökonomen versuchen zu messen, wie stark die Wirtschaft wächst.
© imago/Ikon Images

Jahreswohlstandsbericht: Ist das BIP noch der richtige Maßstab?

Mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) messen Ökonomen die Wirtschaftskraft. Umweltfolgen fließen dabei allerdings ebenso wenig ein wie die Digitalisierung.

Die deutsche Wirtschaft wächst. Für dieses Jahr sagt die Bundesregierung ein Plus von 1,8 Prozent voraus. Deutschland geht es also gut. So deuten zumindest viele Ökonomen und Politiker diese Prozentzahl. Für sie steht der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) synonym für mehr Wohlstand, mehr Erfolg, mehr Teilhabe. Wenn die Wirtschaft wächst, so die These, profitieren alle: Unternehmer, Verbraucher, Angestellte. Aber ist das so? Geht es Deutschland wirklich noch immer so gut, wie die Wirtschaftsdaten es vermuten lassen?

Die Grünen zumindest stellen das in Frage. Zum dritten Mal haben sie jetzt ihren Jahreswohlstandsbericht vorlegt. Sie wollen damit jene Aspekte beleuchten, die ihnen im Wirtschaftsbericht der Regierung fehlen. „Es ist nicht allein die Wirtschaft, welche unsere Lebensqualität und unser Wohlergehen bestimmt“, heißt es im Bericht der Grünen.

"Wohlstand ist nicht gleich Wachstum"

Acht Kategorien aus den Bereichen Ökonomie, Ökologie und Soziales haben die Autoren untersucht und sie anhand eines Ampelsystems bewertet. In das Ergebnis fließt zum Beispiel auch ein, wie sich die Artenvielfalt in der Natur entwickelt oder wie viel der Staat in Bildung investiert. Nur weil die Wirtschaft wächst, heißt das schließlich nicht automatisch auch, dass es dem Einzelnen oder der Umwelt gut geht. „Wohlstand ist nicht gleich Wachstum“, sagt Kerstin Andreae, Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag.

So ist das Bild, das die Autoren des Wohlstandsberichts von Deutschland zeichnen, dann auch recht pessimistisch. Verbessert hat sich seit ihrer letzten Auswertung 2017 kaum etwas. Sieben der acht Ampeln ihrer Analyse stehen auf Gelb oder Rot. Lediglich bei der Rechtsstaatlichkeit ist es um Deutschland demzufolge gut bestellt. Grünen-Politikerin Andreae spricht deshalb von einem „illusionären Wohlstand“, der uns hierzulande in falscher Sicherheit wiege. Sie kritisiert, dass die Bundesregierung ihre Politik noch immer viel zu stark an dieser einen Kennzahl ausrichtet: dem Bruttoinlandsprodukt.

Das BIP misst nicht, wie es den Menschen geht

Das BIP ist der wohl bekannteste Maßstab für die Entwicklung der Wirtschaft. 2018 lag es in Deutschland bei 3,39 Billionen Euro. So viel waren also alle Waren und Dienstleistungen wert, die hierzulande im vergangenen Jahr erstellt worden sind. Erfunden hat diese Kennzahl in den 1930er Jahren der amerikanische Ökonom Simon Kuznets, der später den Wirtschaftsnobelpreis erhielt. Kuznets selbst hat allerdings schon damals darauf hingewiesen, dass man diesen Wert nicht überinterpretieren darf. So sage diese Zahl eben nichts darüber aus, wie es den Menschen tatsächlich geht.

Um das deutlich zu machen, führen Ökonomie-Professoren in ihren Vorlesungen gerne das Beispiel des Autounfalls an. Wenn besonders viele Fahrer einen Unfall bauen, steigt nämlich theoretisch die Wirtschaftsleistung. Schließlich müssen die Wagen dann in die Werkstatt, die auf diese Weise mehr Aufträge bekommt und so mehr Mitarbeiter beschäftigen kann. Das lässt das BIP steigen. Gleichzeitig ist aber natürlich klar: Weder für die Betroffenen noch für die Gesellschaft ist es wünschenswert, dass besonders viele Autounfälle passieren.

Folgen für die Umwelt bleiben außen vor

Ähnlich ist das bei den Auswirkungen auf die Umwelt. Wenn ein Landwirt auf seinem Feld besonders viel Dünger ausbringt, kann er am Ende mehr Getreide ernten – die Wirtschaftsleistung steigt. Dass er gleichzeitig aber die Umwelt schädigt, weil mit dem Dünger Phospor ins Grundwasser gelangt, findet in der Statistik derweil keinen Niederschlag. Das gleiche gilt für soziale Aspekte. Wenn mehr Menschen einen Job finden, tragen sie damit ebenfalls zur Wirtschaftsleistung bei. Das sagt aber nichts darüber aus, wie gerecht die Einkommen innerhalb des Landes verteilt sind. Eben deshalb wünschen sich die Grünen eine neue Wohlstandsmessung.

Bekannt ist dieses Problem schon länger. Der Bundestag hat sogar zwischen 2010 und 2013 schon einmal eine Enquete-Kommission mit der Frage beschäftig, wie man den Wohlstand anders messen kann. Herausgekommen sind dabei fast 1000 Seiten mit Analysen – aber keine Alternative zum BIP. Fast 50 Sondervoten umfasste der Bericht, so uneinig waren sich die Experten.

Der Wert von Datensätzen ist schwer zu beziffern

Dabei wird die Frage, wie wir in Zukunft den Wohlstand messen, immer drängender. Denn außen vor bleiben beim BIP nicht nur ökologische Folgen. Auch die Digitalisierung fließt nur begrenzt ein. Schließlich wird beim BIP vor allem gemessen, wie viele Waren wie Autos oder Stahl produziert werden. Anders als bei solch physischen Gegenständen lässt sich aber der Wert von Datensätzen nur schwer beziffern. Das Statistische Bundesamt behilft sich deshalb mit den Zahlen, die die Finanzämter ihnen über die Techfirmen übermitteln.

Vieles bleibt so aber unberücksichtigt. Wenn Wikipedia zum Beispiel sein Onlinelexikon kostenlos zur Verfügung stellt, fließt das nicht in die Rechnung ein – obwohl es die Menschen durchaus voran bringt. Ähnliches gilt für die Nutzung von Suchmaschinen wie Google oder sozialer Netzwerke wie Facebook, Instagram oder Youtube. Der MIT-Professor Erik Brynjolfsson hat errechnet, dass all das den Wohlstand der Amerikaner jährlich um 100 Milliarden Dollar steigert – ohne das es in einer offiziellen Statistik auftaucht. Mit anderen Worten: Die Errungenschaften der Digitalisierung werden ökonomisch gesehen extrem unterschätzt. Der Hamburger Ökonom Thomas Straubhaar schreibt: „Deshalb sind das BIP und seine Messverfahren von geringerer Aussagekraft denn je.“

Ein Problem ist das, weil Ökonomen bislang schlicht keine Alternative zum BIP gefunden haben. Dabei wusste schon US-Präsidentschaftskandidat Robert F. Kennedy: „Das Bruttoinlandsprodukt misst alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht.“

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