Prostitution nein, Flirten ja: In Japan wächst der Kuppel-Markt
Wa(h)re Liebe: Noch nie waren so viele Japaner Singles wie heute. Das hat ökonomische Gründe – und schafft wiederum einen riesigen Markt. Liebe ist ein teures Gut.
Auf den ersten Blick wirkt Yusuke Oshima wie der Held eines kitschigen Mangacomics: Die Haare hat er wild und akribisch in alle Richtungen gestylt, im tiefen Ausschnitt des schwarzen Hemdes ziert eine funkelnde Kette seine blanke Brust. „An mir ist ja wirklich nicht alles echt“, sagt er. Privat würde er nicht so rumlaufen, aber der Kunde, oder die Kundinnen, seien eben König. Gleich, wenn in Tokio die Sonne untergeht, kommt seine Arbeit. Dann werden sich die Millionen Liebespaare dieser Megastadt auf Zweisamkeit freuen. Und die Übriggebliebenen kommen zu Yusuke Oshima, den sie in der Branche auch „den Märchenprinzen“ nennen.
Oshima ist von Beruf „Host", oder in anderen Worten: Liebhaber. Nicht Prostituierter, wie er betont. „Frauen bezahlen mich, damit ich ihnen schöne Augen mache, mehr nicht. Ich benehme mich einfach wie der perfekte Gentleman.“ Seinen Charme lässt sich der Märchenprinz üppig vergüten. Der Eintritt in den Nachtklub, in dem neben ihm zehn weitere Liebhaber arbeiten, zuhören, flirten, Komplimente machen, kostet für einen Platz am Tisch mit einem der Kavaliere 12 000 Yen, rund 92 Euro. Getränke kommen obendrauf, jede weitere Stunde kostet extra. Wie ein Butler führt Oshima durch den Saal seines Etablissements, das an einen Stripclub erinnert: verspiegelte Wände, gepolsterte Sitzbänke, quadratische Tische mit Champagnerkübeln.
Frauen kaufen sich Liebes-Sms
Oshima weiß, dass er gebraucht wird. Tokio, die mit 35 Millionen größte Metropole der Welt, ist zugleich der größte Singlemarkt des Planeten. Der Anteil der Singlehaushalte hat 50 Prozent erreicht. 47 Prozent aller japanischen Männer und 35 Prozent aller Frauen zwischen 30 und 34 Jahren sind nicht verheiratet. Auch der Anteil derer, die nicht nur keine Beziehung, sondern auch keinen Sex haben, steigt seit längerem. Für Hosts oder auch Hostessen, die weibliche Variante des Liebhaberjobs von Oshima, dann auf männliche Kunden zugeschnitten, bedeutet das viel Kundschaft. Allein im Tokioter Stadtviertel Kabukicho, in dem auch Yusuke Oshimas Klub liegt, finden sich gut 650 Läden, die den Liebhaberservice anbieten.
Pro Nacht setzt so ein „Host Club“ oder „Hostess Club“ zwischen 500 000 und 800 000 Yen um (circa 3 830 bis 6 131 Euro). Und tatsächlich ist viel mehr käuflich als Körperlichkeit: es geht um die Liebe, oder zumindest das Versprechen derselben. Yusuke Oshima hat sich fertig angezogen, Parfüm aufgetragen, die Schuhe glänzen. Er geht noch schnell durch sein Handy, um keine seiner Besucherinnen zu verwechseln. Mit den Stammkundinnen tauscht er Telefonnummern aus. Eine alleinstehende Managerin schrieb ihm letztens in der Nacht: „Ich würde dich jetzt so gerne treffen.“ Oshima antwortete: „Ich liege jetzt im Bett, meine Liebe. Ich wünschte mir, du wärst auch hier.“ Natürlich heuchele Oshima Gefühle vor, aber die Frauen wissen es. Dass dieses Geschäft funktioniert, wundere ihn schon manchmal: „Ich verstehe nicht, dass so viele attraktive Frauen zu mir kommen, weil sie niemanden haben.“
Kuschelcafés und Kochabende
Ein Phänomen von Wohlstandsgesellschaften, das in Japan wohl seine Zuspitzung findet. Die Mehrheit wünscht sich einen Partner, gibt in Befragungen aber an, keinen zu finden. In Stadtgesprächen ist häufig das Wort Einsamkeit zu hören. Nach Umfragen hätte der Durchschnittsjapaner gern zwei bis drei Kinder, die Geburtenrate aber liegt seit langem bei 1,4 pro Frau, so gering, dass die Bevölkerung seit Jahren schrumpft. Dies hat zu einem Arbeitskräftemangel und einer alternden Gesellschaft geführt, was ohne Reformen den Sozialstaat in Bedrängnis bringt und aufs Wachstum drückt.
Gleichzeitig scheint das Bedürfnis nach Liebe nicht zu verschwinden, und Geld wird auf vielen Ebenen gemacht. In Japan haben in den letzten Jahren Kuschelcafés geöffnet, in denen Kunden einen Partner zum Liebkosen mieten. Es gibt Videospiele, in denen eine Liebesbeziehung mit einem Avatar geführt wird. Singles zahlen für Hochzeitsfotos, obwohl sie keinen Partner haben. So werden Dienstleister wie Yusuke Oshima zu wohlhabenden Männern. Im Zentrum lebt er für 180 000 Yen Monatsmiete (rund 1 380 Euro) in einer Dreizimmerwohnung, kaum ein Gleichaltriger könnte das bezahlen. Wie kommt diese Schieflage?
Ohne Festanstellung hat man kaum Chancen auf eine Braut
Als 1990 die größte Spekulationsblase der japanischen Geschichte platzte, fuhr ein ganzes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem an die Wand. Japan rutschte in eine teils bis heute währende Krise, geprägt von wirtschaftlicher Stagnation und Mangel an Zuversicht. Der ideale Lebenslauf, geprägt von einer lückenlosen Beschäftigung bis zur Rente, entspricht heute kaum noch der Realität. Mehr als die Hälfte aller Japaner unter 25 Jahren und rund ein Drittel der gesamten Arbeitsbevölkerung arbeitet ohne Festanstellung. In Japan heißt das meist: 40 Prozent weniger Bezahlung als Angestellte, keine Altersvorsorge, kaum Planungssicherheit, eine Sparquote nahe Null.
Und es heißt auch: schlechte Chancen auf dem Heiratsmarkt. Bis heute ist Japans Arbeitsmarkt so organisiert, dass für Frauen eine Schwangerschaft quasi das Karriereende markiert. Wer sich also Kinder wünscht, ist aus finanziellen Gründen gut beraten, sich an einen Mann mit einem ausreichenden und sicheren Einkommen zu halten. Auch deshalb ist die Geburtenrate niedrig, Hochzeiten seltener als früher: die Männer, die das traditionelle Leben allein stemmen könnten, sind zur seltenen Ware geworden.
"Am liebsten noch dieses Jahr heiraten"
Wer verstünde solche Entwicklungen besser als ein Geschäftemacher? In Meguro, einem anderen Viertel Tokios, tummeln sich abends junge Leute in einer Bar. Ins nervöse Warten spricht ein cool aussehender Typ mit einem lockeren Pullover durchs Mikrofon: „Liebe Damen, herzlichen Glückwunsch! Heute habt ihr es mit guten Partien zu tun.“ Takeshi Hosaka eröffnet das Buffet seiner Kuppelparty, die dem Motto folgt: „Mädchen, schnappt euch einen Staatsdiener.“ Hosakas Unternehmen Machi-kon veranstaltet fast täglich Events, in denen Mann und Frau zusammenkommen sollen: mal sind es Kochabende, ein anderes Mal Fußball- oder Brettspiele. Hauptsache, man wird einem Menschen des anderen Geschlechts vorgestellt. 70 Teilnehmer kommen im Schnitt, das Geschäft expandiert.
An einem der Tische sitzt Yuki Satou. Ihre Haare hat sie hochgesteckt, die Schminke verbirgt alle Makel, denn vom heutigen Abend verspricht sich die 33-jährige Krankenschwester etwas, sie hat immerhin umgerechnet 38 Euro in das Ticket investiert. „Ich will einen Mann mit sicherem Einkommen. Am liebsten würde ich noch dieses Jahr heiraten“, sagt sie, zwei solchen Typen gegenübersitzend, einem Feuerwehrmann, einem Lehrer.
Neun von zehn suchen vergeblich
Der Ablauf ist streng organisiert. Die jungen und nicht mehr ganz so jungen Damen rutschen alle paar Minuten im Rotationsprinzip weiter, um die Herren, ihre mögliche Lebensversicherung, kennenzulernen. Takeshi Hosaka, der berufliche Matchmaker, schaut sich das Ganze aus der Distanz an. Er führt Buch über die Erfolge seines Unternehmens, das längst nicht mehr der einzige Anbieter ist, der die traditionelle, echte Liebe verspricht, viel mehr also als die gespielten Zärtlichkeiten des Märchenprinzen Yusuke Oshima. Machi-kon sei erfolgreich im Verkuppeln: „Statistisch gesehen finden zehn Prozent unserer Kunden einen Partner. Von denen wird wiederum ein Fünftel heiraten.“ Er finde die Quote nicht schlecht, sagt Hosaka. All diejenigen, die leer ausgehen, dürften ja wiederkommen, um bald die Liebe zu finden, vielleicht.
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