Sex, der Papst und Pegida: Verlorene Triebe
Das Abendland sitzt antriebslos und kinderlos auf dem Sofa: Ihm geht zunehmend die Lust zum Leben abhanden. Ein Kommentar
Vor einigen Monaten ging der britische „Guardian“ der Frage nach, warum die Japaner keinen Sex mehr haben. „Pflanzenfresser“ werden dort Männer genannt, die statt Sex zu haben, lieber spazieren gehen, und die durch diesen Rückzug die Geburtenrate des Landes – ohnehin eine der niedrigsten der Welt – weiter drücken. Ähnlich niedrig ist sie in Südkorea, wo die gleiche kulturelle Flucht aus Intimität und Fortpflanzung zu beobachten ist.
Aber selbst in Dänemark, dem glücklichsten Land der Welt, bietet das Pauschalreiseunternehmen „Spies Rejsen“ den Kunden inzwischen einen „Eisprung-Rabatt“: Wer im Urlaub ein Kind zeugt, kann wertvolle Preise gewinnen. „Mach es für Dänemark“, heißt der Slogan.
Rückgang der nationalen Libido
Das Sinken der Geburtenrate in modernen Gesellschaften ist kein neues Phänomen, und im Fall von Japan, das seit Jahren in der Rezession steckt, sind die Erklärungen ohnehin schnell bei der Hand: ökonomischer Druck, veränderte gesellschaftliche Konventionen, inzwischen auch die Verbreitung von Pornografie über das Internet. Ein Viertel aller Japaner sagen, dass sie an einer Beziehung grundsätzlich nicht interessiert sind. Neu ist jedoch das Desinteresse an Sex, das eben nicht nur in Japan festzustellen ist, wo ein Drittel der befragten Erwachsenen angibt, niemals sexuell aktiv gewesen zu sein, sondern auch in England, wo eine Studie jüngst den dramatischen Rückgang der nationalen Libido konstatierte.
In einer alternden Gesellschaft bändigt sich der sexuelle Trieb von selbst. Kinderlosigkeit und Verlust von Lebenslust und gesellschaftlicher Dynamik sind jedoch der Preis, der dafür gezahlt werden muss. Doch die demografische Entwicklung und die wirtschaftliche Lage sind nur ein Grund. Die westliche Gegenwartskultur verfällt „seit Beginn der 90er Jahre in eine Tendenz zu Lustfeindlichkeit und Prüderie“, schreibt der österreichische Philosoph Robert Pfaller in seinem Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“. Sie verliere zunehmend „ihre kulturellen Bezüge zur Sexualität“. Pfaller sieht diesen Rückzug aus der Sexualität im Zusammenhang eines allgemeinen „Einbruchs asketischer Ideale in die Gegenwartskultur“. Die reichsten Bevölkerungen hätten es verlernt, sich die Frage zu stellen, wofür es sich zu leben lohnt. Folge sei eben auch eine „Sexualfeindlichkeit“, sagt Pfaller.
Die körperliche Kontraktion geht also einher mit einer mentalen. Und so ist die moderne Gesellschaft nicht nur in Michel Houellebecqs neuem Roman „Unterwerfung“ eine impotente Gesellschaft. Houellebecq beschreibt ein antriebsloses Europa, das keine Kinder mehr bekommt und in dem, wie es Iris Radisch formulierte, die erwachsenen Familienmitglieder „nach getaner Arbeit in unförmigen Freizeitklamotten auf dem Sofa zusammensacken und beim Gedanken an ehelichen Sex müde abwinken“.
Europa als Großmutter
In solchen Gesellschaften gehen die Menschen auf die Straße, um sich für „die Erhaltung und den Schutz unserer christlich-jüdisch geprägten Abendlandkultur“ auszusprechen – nachdem sie selbst nicht genug für deren Erhaltung getan haben. Oder haben die Demonstranten in Dresden alle vier, fünf Kinder? Insofern sind die Pegida-Demonstrationen auch ein öffentliches Beklagen des eigenen Scheiterns. Trost ist auf ein solches Bekenntnis der eigenen Impotenz die geeignete Antwort.
Der Pariser Marsch nach den Anschlägen auf „Charlie Hebdo“ lieferte laut der spanischen Zeitung „El País“ den Beweis, dass „Europa vom Stereotyp einer dekadenten Gesellschaft weit entfernt ist“. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Europa in der Reaktion auf den islamistischen Terror eine neue Lust zum Leben erwachsen könnte. Dagegen sprechen die Zahlen und gesellschaftlichen Strukturen: Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung geht davon aus, dass fast ein Drittel der nach 1965 geborenen Frauen in Deutschland kinderlos bleibt. Breitet sich die Pflanzenfresserei aus, wird diese Zahl nur noch steigen.
Selbst Papst Franziskus weiß nicht weiter. Er beklagt zwar das erschlaffte Europa: „Von mehreren Seiten aus gewinnt man den Gesamteindruck von Müdigkeit und der Alterung, die Impression eines Europas, das Großmutter und nicht mehr fruchtbar und lebendig ist.“ Das Gegenteil aber will er auch nicht, denn er weist diejenigen zurecht, die glauben, „um gute Katholiken zu sein, müssten sie sich wie die Karnickel vermehren“. Dass ein Papst die menschliche Fortpflanzung diskreditiert, ist neu. Es macht deutlich, wie weit verbreitet der Rückzug aus dem Leben bereits ist.
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