Interview mit Deutschlands oberstem Mieterschützer: „In Berlin kocht und brodelt es“
Mieterbund-Chef Lukas Siebenkotten spricht über soziale Brennpunkte in Berlin, den Mietendeckel und die Angst vor einer Kündigungswelle durch Corona.
Lukas Siebenkotten (62) ist der mächtigste deutsche Mieterschützer. Er ist Präsident des Deutschen Mieterbunds und spricht für rund drei Millionen Mieterinnen und Mieter. Vor seinem Engagement beim Mieterbund war das SPD-Mitglied in der Kommunalpolitik aktiv. Von 1995 bis 1999 war Siebenkotten Bürgermeister der Stadt Willich.
Herr Siebenkotten, wohnt der oberste deutsche Mieterschützer eigentlich selbst zur Miete?
In Berlin tue ich das. Ich habe eine kleine Mietwohnung in Mitte in der Nähe zu meinem Büro. Meine Frau und ich besitzen aber auch noch ein Einfamilienhaus am Niederrhein. Insofern bin ich beides: Eigentümer und Mieter von Wohnraum.
Wie sind Sie als Mieter? Kürzen Sie ständig Ihre Miete oder streiten mit Ihrem Vermieter?
Nein. Ich hatte bisher einmal eine Mieterhöhung, die ich aber nur zum Teil akzeptiert habe. Der Vermieter hat das eingesehen, damit war die Sache erledigt.
Berlin ist eine Mieterstadt ...
Berlin ist die Mieterstadt in Deutschland. Es gibt keine deutsche Großstadt, in der prozentual gesehen so viele Mieter leben wie in Berlin.
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Viele von ihnen hoffen, dass sie zum Jahresende weniger Miete zahlen als jetzt. Wie viele Mieter werden vom Berliner Mietendeckel profitieren?
In Berlin fallen rund 1,5 Millionen Mieterhaushalte in den Anwendungsbereich des Mietendeckels, die dann auch von den Beschränkungen der Mieterhöhungsmöglichkeit profitieren.
Die Mieter müssen mögliche Mietsenkungen selber durchsetzen. Schaffen sie das selbst oder ist das Ganze ein Konjunkturpaket für den Berliner Mieterverein?
Man kann das allein schaffen, der Mieterverein gibt ja Hinweise, wie es geht. Aber es ist natürlich hilfreich, wenn man sich an den Mieterverein wendet. Ein Konjunkturprogramm brauchen die Kolleginnen und Kollegen dort aber nicht, der Berliner Mieterverein wächst Jahr für Jahr. Er ist unsere Lokomotive, was die Zahl neuer Mitglieder angeht.
Wie kommt das? Gibt es in Berlin besonders viele Probleme?
Ja. Die Mieten steigen deutlich, vor allem die Mieten für Wohnungen, die nach dem Auszug des Mieters wieder vermietet werden. Immer mehr Menschen, die auf bezahlbaren Wohnraum angewiesen sind, treffen auf Wohnungen, die teuer sind. In Berlin kocht und brodelt es. Hinzu kommt, dass der Berliner Mieterverein besonders aktiv ist, viele Beratungen anbietet und sich auch in der Wohnungspolitik zu Wort meldet.
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Gegen den Mietendeckel gibt es Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Berliner Verfassungsgericht. Wird der Mietendeckel das überstehen?
Eines vorab: Obwohl es von Vermieterseite großes Gejammer gegeben hat, halten sich fast alle an das Gesetz. Die Vermieter mussten ja die Mieter bis Ende April darüber informieren, wie sie die Wohnung mit Blick auf die Ausstattung und die Lage einstufen. Die meisten haben das getan. Wie die Verfassungsgerichte entscheiden werden, ist schwer vorherzusagen. Aber: Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ist nirgendwo stärker als im Wohnbereich. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon mehrfach bestätigt. Die Wohnung ist der Mittelpunkt des Lebens. Das ist anders als bei einem Flachbildfernseher oder einem Auto.
Der Kampf gegen hohe Mieten ist ja kein Berliner Phänomen, auch in Bayern gibt es eine Initiative für einen Mietenstopp. Die Mieten sollen dort sechs Jahre lang maximal in Höhe der Inflation steigen. Ist das leichter durchzusetzen?
Das Bayerische Innenministerium hält ein solches Volksbegehren für unzulässig, weil dafür seiner Meinung nach ein Bundesgesetz nötig wäre. Ob das so ist, entscheidet am Donnerstag der Bayerische Verfassungsgerichtshof. Das könnte auch für den Berliner Mietendeckel interessant werden.
Was wäre, wenn die Gerichte den Berliner Mietendeckel kassieren? Wie könnte ein Plan B aussehen?
Ich gehe davon aus, dass der Mietendeckel vor Gericht besteht. Falls nicht, könnte man in Berlin über einen Mietenstopp nach Vorbild der bayerischen Initiative nachdenken. Das wäre ja ein milderer Eingriff verglichen mit der Absenkung der Miete, wie sie in Berlin vorgesehen ist.
Es wäre aber besser, wenn der Bund einen solchen Mietenstopp einführen würde. Rechtlich wäre das völlig unproblematisch. Wir brauchen eine bundesweite Regelung, nach der die Mieten in den nächsten fünf bis sechs Jahren nur im Rahmen der Inflationsrate erhöht werden dürfen. Dann wären die Landesgesetze unnötig.
"Niemand schafft bewusst soziale Brennpunkte"
Würgen solche Einschränkungen nicht den dringend nötigen Bau neuer Wohnungen ab? Lohnt sich das Vermieten dann überhaupt noch?
Aber der Neubau ist doch überall ausgenommen, das gilt für die Mietpreisbremse wie für den Mietendeckel. In Berlin kann man immer noch ein einträgliches Vermietungsgeschäft machen. Aber wo sind die Investoren, die bezahlbare Wohnungen für das untere Drittel der Einkommensskala bauen wollen? Außer den kommunalen Wohnungsunternehmen sehe ich so gut wie niemanden.
Mietendeckel und Mietpreisbremse schaffen aber keine einzige zusätzliche Wohnung.
Das sollen sie auch nicht. Sie sind lediglich ein „Begleitinstrument“ und sollen dämpfend wirken, bis wir einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt haben. Beide Instrumente können aber verhindern, dass noch mehr Wohnungen unbezahlbar werden.
Wo sollen zusätzliche, bezahlbare Wohnungen herkommen?
Wir brauchen ein deutschlandweites Programm mit erheblichen zusätzlichen Mittel aus dem Bundes- und den jeweiligen Länderhaushalten, um neue bezahlbare Wohnungen zu bauen. Seit Jahren fallen mehr so genannte Sozialwohnungen aus der sozialen Bindung heraus als hinzukommen. Die Wohnungen sind dann zwar noch da, aber die Mieten steigen. Die Konsequenz: Es gibt immer weniger bezahlbaren Wohnraum. Es müssten jedes Jahr 80.000 Sozialwohnungen gebaut werden, um wenigstens die immer größer werdende Lücke zu schließen. In den 80er Jahren hatten wir in der alten Bundesrepublik 3,5 Millionen Sozialwohnungen, jetzt sind es deutschlandweit nur noch 1,1 Millionen Wohnungen.
Die Sozialbindung für solche Wohnungen läuft nach 20, 30 Jahren aus. Wie könnte man eine soziale Bindung dauerhaft schaffen?
Wir brauchen Wohnungen, die für immer der Sozialbindung unterliegen. Das würde gelingen, wenn wir wieder einen gemeinnützigen Wohnungssektor hätten. Das könnten neue Wohnungen sein oder solche, die bereits bestehen. Wir hatten einen solchen gemeinnützigen Wohnungsmarkt ja nach dem zweiten Weltkrieg bis in die 80er Jahre. Dann kam der Skandal um die „Neue Heimat“, und die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung nutzte das als Vorwand, den gesamten gemeinnützigen Wohnungsbereich zu schleifen.
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In Berlin hat man den Eindruck, als ob die kommunalen Wohnungsunternehmen diese Rolle übernommen haben. Der Senat macht ihnen ja Vorgaben, was die Miethöhe und die Vergabe von Wohnungen an sozial schwache Mieter angeht. Werden hier nicht sehenden Auges soziale Brennpunkte geschürt?
Ich bin davon überzeugt, dass in allen kommunalen Wohnungsgesellschaften, nicht nur in Berlin, intensiv darüber nachgedacht wird, wie man eine gute Mietermischung hinbekommt. Ich vertraue darauf, dass das gelingt. Niemand schafft bewusst soziale Brennpunkte. Und man baut doch heute auch nicht mehr diese Riesenblöcke wie in den 70er Jahren.
"Wir sehen die Gefahr, dass Kündigungen zunehmen"
Millionen Menschen stecken in Kurzarbeit oder haben ihre Arbeit verloren. Mietern, die ihre Miete nicht mehr pünktlich zahlen können, droht die Kündigung. Das Mietenmoratorium, das sie davor bewahrt hat, ist ausgelaufen. Stehen wir jetzt vor einer Kündigungswelle?
Wir sehen die Gefahr, dass Kündigungen zunehmen. Ab jetzt haben Mieter nur noch einen guten Monat Puffer. Wer mehr als eine Monatsmiete im Rückstand ist, kann fristlos gekündigt werden. Davor wollten wir die Mieter für einen längeren Zeitraum schützen, nicht nur für drei Monate. Justizministerin Lambrecht wollte ja auch, dass das Moratorium bis Ende September und nicht nur bis Ende Juni gilt. Leider ist das an der Union gescheitert.
Von der Möglichkeit, um eine Stundung der Miete zu bitten, haben aber nur wenige Mieter Gebrauch gemacht. Ist die Not doch nicht so groß?
Nein, dafür gibt es viele Gründe. Auch wenn die Menschen weniger Geld haben, versuchen sie, auf jeden Fall ihre Miete zu zahlen. Viele Vermieter haben sich kulant gezeigt und sich auf gekürzte oder spätere Zahlungen eingelassen. Hinzu kommt, dass man derzeit leichter Wohngeld erhält und die Kriterien für die Übernahme der Mietkosten beim Arbeitslosengeld II vorübergehend gelockert worden sind. Aber: Das Problem verschärft sich ja von Monat zu Monat. Irgendwann sind die Reserven aufgebraucht. Ich glaube, in den nächsten Monaten kann es für viele eng werden.
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Die Corona-Krise könnte aber auch dazu führen, dass das Interesse an Immobilien, insbesondere aus dem Ausland, sinkt. Wäre das gut für die Mieter?
Ja, auf jeden Fall. Viele ausländische Investoren wollen ausschließlich eine gute Rendite erzielen, haben aber kein Interesse an sozialem Zusammenhalt in Deutschland.
Innenminister Seehofer und Justizministerin Lambrecht wollen die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen erschweren. Hilft das gegen Spekulanten?
Ich glaube schon. Das ist eine gute Sache. Ich hoffe nur, dass das Vorhaben die Koalition übersteht. Inzwischen werden ja echte Phantasiepreise aufgerufen, wenn Miet- in Eigentumswohnungen umgewandelt werden.
In Berlin gibt ein solches Umwandlungsverbot bisher nur für Milieuschutzgebiete. Wird künftig ganz Berlin Schutzzone?
Nein, aber wenn die Gesetzesnovelle verabschiedet wird, kann dieses Mittel in von der jeweiligen Landesregierung festgesetzten Gebieten mit angespanntem Mietwohnungsmarkt eingesetzt werden. Und die gehen hoffentlich weit über die Milieuschutzgebiete hinaus.
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