Stadtentwicklung in Berlin und Brandenburg: Zwanzig Jahre vertane Chancen bei der Siedlungsplanung
Kluge Wohnkonzepte können Berlin und Brandenburg nur gemeinsam gelingen. Konkrete Vorschläge lieferte bereits der Berliner Flächennutzungsplan von 1994.
Berlins Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum trifft auf eine äußerst angespannte Lage bei der Wohnraumversorgung. Am Stadtrand und im Speckgürtel sind vorhandene Freiflächen ebenso rar wie begehrt, vor allem mit günstiger Verkehrsanbindung. Stadt und Umland wachsen zu einem einheitlichen Wohnungsmarkt zusammen. Beide Teilräume schieben sich durch Siedlungszunahme ineinander. Die Verkehrsbelastung und die Zahl der Arbeits-, Einkaufs- und Freizeitpendler nehmen unablässig zu. Ein hohes wirtschaftliches Gefälle bei offenen Grenzen führt zu starken Wanderungsströmen. All dies macht eine Steuerung – eine gemeinsame Planung von Berlin und Brandenburg – unumgänglich. Andernfalls drohen Fehlentwicklungen, der unnütze Verbrauch natürlicher und finanzieller Ressourcen sowie eine Beeinträchtigung der langfristigen Lebens- und Standortqualität in beiden Ländern.
Was sich wie eine aktuelle Zustandsbeschreibung liest, ist bereits mehr als zwei Jahrzehnte alt und findet sich in den Erläuterungen zum Berliner Flächennutzungsplan von 1994. Dessen Autoren rechneten damals für das Jahr 2010 mit 3,7 Millionen Einwohnern. So viele sind es jetzt. Auch vieles andere in diesem Plan war weitsichtig, durchdacht und mit konkreten Vorschlägen unterlegt. Darunter der Ausbau der S-Bahn zu den Siedlungsschwerpunkten im Speckgürtel sowie die Einrichtung schneller Regionalbahnverbindungen. Das Straßennetz zwischen Berlin und den regionalen Siedlungs- und Gewerbezentren im Metropolraum sollte sinnvoll ergänzt, Menschen und Arbeit, Verbraucher und Waren effizient zusammengeführt werden.
Nur das Verzahnen von Verkehrs- und Siedlungsplanung könne ein steigendes Verkehrsaufkommen bremsen, hieß es seinerzeit. Eine entscheidende Rolle komme dabei dem Wohnungsbau zu. Ratsam sei – neben der integrierten Raum- und Regionalplanung – eine gemeinsame Wohnungsbauförderung beider Länder, um die gewünschten Lenkungswirkungen zu erzielen. Unabhängig von der Länderfusion müssten Berlin und Brandenburg eine gemeinsame Landesentwicklungsplanung aufsetzen.
Der alte Plan zeigt schonungslos 20 Jahre vertane Chancen
Als Vermächtnis dieses reifen Planungsdokuments ist nur der letzte Punkt geblieben. Die meisten Wünsche, Empfehlungen und Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Die Politik hat eifersüchtig über die Planungshoheit für das eigene Land gewacht und Konkretes tunlichst vermieden. Allgemeine, wolkige, unverbindliche Leitlinien prägen die Kooperation – bis heute.
Vieles ist seit 1994 passiert, was die Planer von einst nicht voraussahen: Das Platzen der Immobilienblase, genannt Aufbau-Ost. Die scharfe Rezession der Nachwendezeit, die Euphorie in Depression umschlagen ließ. Ein tiefgreifender Strukturwandel in Brandenburg bei riesigen Transferleistungen von West nach Ost und großen Wanderungsbewegungen von Ost nach West. Und nicht zuletzt die schwierige Neugründung Berlins, das sich aus drei Teilen zusammenfinden und -fügen musste: Osten, Westen, Hauptstadt.
Der alte Plan zeigt jedoch schonungslos 20 Jahre vertane Chancen. Einer vertrauensvollen und pragmatischen Zusammenarbeit beider Länder hat das Scheitern der Länderfusion nachhaltig geschadet. Zwar wurden danach noch ein paar Institutionen und Behörden zusammengelegt, doch in zentralen Bereichen kam es zu Rückschritten und Stillstand. Bei der Wirtschafts- und Ansiedlungspolitik gibt es bis in die Gegenwart eine bestenfalls lauwarme Kooperation in länderübergreifenden Technologieclustern. Tatsächlich tut jede Regierung, was sie für geboten oder opportun hält.
Verhandlungen mit Bund und Bahn führt jeder für sich
In Verkehrsfragen verweisen die Länder stolz auf den gemeinsamen Verkehrsverbund (VBB). Er ist fraglos das erfolgreichste Stück gelebter Kooperation und zugleich hart und machtvoll limitiert. Investitionen in Schiene und Straße bleiben Ländersache, Verhandlungen mit Bund und Bahn führt jeder für sich. Die Quittung präsentiert die neue Korridoranalyse der 16 wichtigsten Schienenverbindungen zwischen Umland und Zentrum. Fast alle Strecken sind ausgelastet bis dicht. Besonders die Pendler dürfen bis in ferne Zukunft dafür büßen, dass es eine abgestimmte Verkehrsplanung, die diesen Namen verdient, gar gemeinsame Projekte nicht gibt, ausgenommen den desaströsen Flughafen BER.
Gerade beim brenzligen Thema Wohn- und Siedlungsbau sowie der Errichtung von sozialer Infrastruktur (Schulen, Kitas, Kliniken) fehlt jede gemeinsame Steuerung. Wenn die Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen, Katrin Lompscher, trotzdem auf den Landesentwicklungsplan (LEP) sowie das Kommunale Nachbarschaftsforum Berlin-Brandenburg (KNF) verweist, bedient sie eine Nebelmaschine. Die seit über 20 Jahren tätige, rein informelle Runde aus Berliner Bezirken und benachbarten Umlandgemeinden ist zu Recht unbekannt. Ihr fehlt jedes Merkmal eines ernst zu nehmenden Regionalverbunds: eine eigene Stimme, finanzielle Mittel, Planungsrecht.
Der Landesentwicklungsplan, der in neuer Fassung 2019 gelten soll, schreibt in seinem aktuellen Entwurf die bestehende Siedlungs- und Verkehrsstruktur ungerührt fort. Keine Spur findet sich von den dramatischen Veränderungen der vergangenen Jahre. Mit einem Meta-Plan, an dem Wirklichkeit abtropft, und aus dem Wirken eines nachbarlichen Gesprächskreises entsteht nicht eine einzige Wohnung – weder auf dem Papier noch in Stein, weder in Berlin noch in Brandenburg.
Woidke überblickt die Folgen des „Überlaufens“ von Berlin nicht
Für Herbst 2018 ist der Berliner Stadtentwicklungsplan Wohnen 2030 angekündigt. Er will die starken Zuwanderungszahlen berücksichtigen und auch Siedlungsgebiete im Umland aufnehmen. Doch nirgends zeichnet sich der große Wurf ab, den eine Viertelmillion Neubürger in fünf Jahren eigentlich erwarten ließe. Mit der überraschenden und fragwürdigen Herabsetzung der jüngsten Bevölkerungsprognose für Berlin droht vielmehr ein Püree bekannter Planungszutaten. Es besteht aus etwas Verdichtung hier, einigen Flächenumwidmungen oder -ausweisungen da und verstreuten Neubausiedlungen dort.
Von einem intensivierten Austausch zwischen den für Stadt- beziehungsweise Landesplanung zuständigen Verwaltungen in Berlin und Brandenburg ist nichts bekannt. Ebenso wenig von einer engen Abstimmung Katrin Lompschers mit ihrer Ministerkollegin für Infrastruktur und Landesplanung in Brandenburg, Kathrin Schneider. Der Wille und das Ziel beider Länder, durch koordinierte Maßnahmen und konkrete Projekte den angespannten Wohnungsmarkt zu lenken, sind nicht ansatzweise erkennbar.
Zudem hat Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke den Wohnungsbau wiederholt zur reinen Angelegenheit von Städten und Gemeinden erklärt. Eigentlich fällt es schwer zu glauben, dass der Regierungschef – bei allen Vorteilen für Brandenburg – die problematischen Folgen des „Überlaufens“ von Berlin in ihrer Tragweite nicht überblickt. Wie ist es möglich, dass jemand die Steuerung massiver, komplexer Suburbanisierungsprozesse ausgerechnet bei den untersten und kleinsten Verwaltungseinheiten in guten Händen wähnt? Niemand käme auf die Idee, etwa die Verantwortung für ein weit verzweigtes überregionales Verkehrsnetz in die Obhut eines Gemeinderats zu legen.
Michael Müller könnte andere Akzente setzen
Den Brandenburger Kommunen und Städten des Umlands, die zugleich seit über zwei Jahrzehnten im länderübergreifenden Nachbarschaftsforum wirkungslos bleiben, fehlen Planungskapazitäten, Projektmittel und Kompetenzen. Weder Berlin noch Brandenburg haben an dieser Situation bisher etwas geändert oder ernsthaft eine abgestimmte Steuerung von Wohnungsbau und Infrastruktur auf Regierungsebene gehoben. Auch nicht Michael Müller, der als Berlins Regierender Bürgermeister durchaus andere Akzente setzen könnte als im Amt des Senators für Stadtentwicklung, das er bis 2014 verantwortete.
Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung vermittelt den Eindruck, dass sie Brandenburg zur Lösung der Wohnungsfrage nicht braucht. Ein fataler Irrtum. Das Land Berlin – dem über seine Stadtgüter vor allem in Brandenburg Flächen im Umfang von 165 Quadratkilometern gehören (etwa die Größe von Treptow-Köpenick) – sollte einmal untersuchen, welche Flure und Grundstücke im Eigenbesitz sich für Siedlungsentwicklung und Wohnungsbau aktivieren ließen. „Berlin baut Wohnungen in Brandenburg“ – das wäre doch zur Abwechslung mal ein schöner Aufmacher. Ganz ohne Flughafen.
Die Autorin schreibt derzeit an ihrer Dissertation im Bereich Stadtentwicklung. Der Autor ist Architekt in Berlin.
Franziska Springer, Ulrich Springer